Auf der Suche nach einem mündigen Glauben

Wie kann die Kirche Jugendliche beim Glauben unterstützen?
Eltern und Gemeinden wünschen sich, dass ihre Jugendlichen zum Glauben finden. Es kann aber nicht damit getan sein, die Glaubenssätze der anderen zu übernehmen.

Meine persönliche Glaubensreise begann vor einigen Jahren in einem kleinen niedersächsischen Dorf. Ich wuchs mit den letzten Ausläufern einer volkskirchlichen Selbstverständlichkeit auf. Konfirmation und der dazugehörende Konfi-Unterricht waren gesetzt, auch wenn man sonst nicht viel mit Glauben und Kirche am Hut hatte. Tatsächlich ging fast meine ganze Klasse zum Konfi-Unterricht, 15 bis 20 Kinder, Dienstag für Dienstag.

Für mich als Jungen, der bis dahin herzlich wenig mit Kirche zu tun hatte, waren diese Dienstagnachmittage rückblickend wahrscheinlich einige der wichtigsten Veranstaltungen meines Lebens. Grosse Worte, ich weiss, aber mittlerweile blicke ich selbst auf 20 Jahre Erfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit zurück. Zehn Jahre davon als ehrenamtlicher Mitarbeiter, zehn Jahre hauptamtlich als Pastor im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden. Ohne die Dienstagnachmittage in unserem alten Gemeindehaus wäre es wahrscheinlich nie so gekommen. Was also hat die Richtung meiner eigenen Reise so sehr bestimmt? Neben vielen persönlichen Begegnungen, manchen Zufällen und Umwegen vor allem eins: die Suche nach einem eigenen, mündigen Glauben.

Auch wenn sich langsam Verklärung und Wirklichkeit miteinander vermischen, erinnere ich mich noch gut daran, wie anders der Pfarrer damals mit uns gesprochen hat. In meiner Wahrnehmung waren wir für ihn nicht nur Kinder, sondern er behandelte uns ein Stück weit wie Erwachsene. Er stellte uns Fragen, die über das hinausgingen, womit wir uns damals beschäftigten. Auf einmal ging es nicht mehr nur um Hausaufgaben oder Fussball, sondern um den Sinn fürs Leben oder die Ewigkeit. Mich hat dabei vor allem die Ernsthaftigkeit gefesselt, mit welcher uns der Pfarrer begegnete. Als sei unsere Meinung wirklich wichtig für ihn.

Mündigkeit ernsthaft wollen

Aber wollen wir als Eltern oder als Gemeinde überhaupt eine wirkliche Mündigkeit im Glauben? Denn ernsthafte Mündigkeit im Glauben bedeutet auch, sich der Gefahr auszusetzen, alles in Frage stellen zu dürfen. Mündigkeit bedeutet, selbstbestimmt zu glauben, manchmal auch ganz anders als Eltern oder Gemeinde. Die Frage an Gemeinden und Familien ist daher zuerst, ob das wirklich gewollt ist. Denn hier geht es nicht nur darum, dass die Kinder mit in die Gemeinde kommen oder dass sie bei der Jungschar oder im Lobpreis mitmachen. Diese Mündigkeit ist etwas anderes, als den Glauben der Eltern und der anderen Gemeindemitglieder nur zu übernehmen.

Der US-amerikanische Theologe James W. Fowler hat eine Theorie der Glaubensentwicklung mit sechs Stufen entwickelt. Die dritte Stufe setzt im Alter von etwa 12, 13 Jahren ein, Fowler nennt sie den «synthetisch-konventionellen Glauben»: Es werden Teile der Glaubenswelt von Gemeinde oder Eltern für sich selbst übernommen, ohne sie gross in Frage zu stellen. Es wird übernommen, was ins eigene soziale Umfeld «passt». Selbst manche Erwachsenen kommen über diese Phase kaum hinweg. Vor meinen inneren Augen sehe ich Gespräche, in denen die Angst, dass zu viele oder bestimmte Fragen den Glauben gefährden, sehr präsent ist.

Bei Fowler beginnt danach die Phase des «individuierend-reflektierenden Glaubens», in der bisherige Antworten und Autoritäten infrage gestellt werden. Dabei wird hinterfragt, ob die Antworten, die für die Eltern oder die Gemeinde bisher gepasst haben, auch für einen selbst passen. Diese Phase kann eine konfliktreiche und verletzende Phase sein. Schliesslich wissen wir alle meist erst, was wir nicht mehr wollen, bevor wir wissen, was wir eigentlich wollen. Wer wirkliche Mündigkeit will, der muss sich aber darauf einlassen, das Ergebnis dieser Reise nicht mehr selbst in der Hand zu halten. Wer wirkliche Mündigkeit will, der lässt sich darauf ein, dass die Reise vielleicht ganz anders ausgeht, als wir uns das vorstellen.

Kinder- und Jugendarbeit als Schlüsselfaktor

Manchmal beschleicht mich das Gefühl, wir haben zur Kinder- und Jugendarbeit ein ähnliches Verhältnis wie zum Klimaschutz: Klar ist das richtig und wichtig! An grossen Worten mangelt es uns nicht, aber sich wirklich verändern oder uns etwas kosten darf es nicht. Kinder- und Jugendarbeit soll schöne Zahlen und noch schönere Bilder produzieren, aber nicht anstrengend, herausfordernd oder teuer sein. Wie oft habe ich schon gehört: «Natürlich habe ich ein Herz für Kinder- und Jugendarbeit, aber...!» Ich habe aufgehört zu zählen.

Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2023 bringt es gut auf den Punkt: «Aller Anfang ist entscheidend! Vor allem die Konfirmation und die elterliche Prägung sind entscheidend für die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen.» Und: «Für die religiöse Entwicklung ist die Teilnahme an kirchlichen Angeboten in der Kindheit und Jugend massgeblich. So gibt eine grosse Mehrheit von 70 Prozent aller Protestant*innen an, dass die Konfirmation ihre spätere Religiosität geprägt hat. Die überwiegende Mehrheit der Konfirmierten, die evangelisch geblieben sind, haben ihre Konfirmation als bedeutsam für ihre spätere Einstellung zu Glaube und Religion erlebt. Die Teilnahme am Konfirmand*innenunterricht ist somit ein wegweisender Faktor der Kirchenbindung.»

Ohne prägende Kinder- und Jugendarbeit wird es für unsere Gemeinden und Kirchen kaum eine Zukunft geben, das ist die harte Realität. Und wer daran spart, gefährdet letztlich die Existenz unserer Glaubensgemeinschaft. Da helfen auch keine Lippenbekenntnisse wie «Natürlich habe ich ein Herz für Kinder- und Jugendarbeit, aber...». Übrigens: Für eine Bibelschule oder ein Theologiestudium entscheiden sich auch vor allem jene jungen Menschen, die selbst eine aktive und attraktive Kinder- und Jugendarbeit erlebt haben. Der Mangel an Hauptamtlichen in vielen (Frei-)Kirchen ist auch den Versäumnissen in der Kinder- und Jugendarbeit geschuldet.

Beziehung, Beziehung, Beziehung

Auch wenn diese Erkenntnis wahrlich keine Neuigkeit ist, kann man es gar nicht oft genug sagen: Im Glauben läuft alles über Beziehungen! Ich habe meine eigenen Erfahrungen zu Beginn auch deswegen so ausführlich beschrieben, weil nicht nur das Fragenstellen für mich dazugehört, sondern vor allem die Beziehung an sich. Gerade junge Menschen brauchen verlässliche Beziehungen, sie suchen nach Orientierung und wünschen sich Zuwendung.

In der angelsächsischen Gemeindegründungsszene heisst es so schön: belonging before believing (erst dazugehören, dann glauben). Das lässt sich eins zu eins auch auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen anwenden: Dort, wo sie sich wohlfühlen, wo sie angenommen und verstanden werden, dort fangen sie an, den Glauben anzunehmen. Es geht im Glauben weniger um die Vermittlung von frommen Richtigkeiten, sondern um eine ehrliche Beziehung mit Zweifeln, Fragen und Raum für Entwicklung. Fernab aller Mündigkeit ist das A und O immer, die Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen zu stärken. Ich wäre heute nicht der, der ich bin, wenn damals nicht so gut in Beziehungen investiert worden wäre. Und dass Kirche nicht nur Bibel und Beten ist, sondern auch Bratwurst und Brautschau, war schon unseren Eltern bekannt.

Zum Schluss noch ein halbes Learning. Halb, weil ich selbst noch mitten im Lernen bin: Habt Geduld! Niemand wird über Nacht erwachsen. Der Weg zur eigenen Mündigkeit führt auch über Irr- und Umwege und es braucht Zeit, um zum Ziel zu kommen. Für mich bedeutet das, mich immer wieder im Gottvertrauen zu üben und zu akzeptieren, dass meine Antworten nicht die einzig wahren sind. Junge Menschen müssen ihren eigenen Weg und ihre eigenen Fragen haben. Ich möchte auf jeden Fall frommer Gelassenheit Platz geben, in der Beziehung bleiben und mich daran erinnern, dass auch mein eigener Glaube durch Phasen, Entwicklungen und Durststrecken gegangen ist. 

Zum Thema:
Jugendleiter im Livenet-Talk: Jugend, soziale Medien und wertschätzende Beziehungen
Die Gesundheit leidet: Zu viel Stress unter Jugendlichen
Beziehung vor Intellekt: Livenet-Talk: Was gibt der jungen Generation Orientierung?

Autor: Benedikt Elsner
Quelle: Magazin FamilyNext 3/24, SCM Bundes-Verlag

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