Wenn die eigene Welt untergeht

Cherson nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms
Für viele im Westen war es nur eine Schreckensnachricht unter vielen, als der Kachowka-Staudamm in der Ukraine zerstört wurde. Für ukrainische Christen aus der Gegend von Cherson ist es eine besondere Herausforderung.

In der Nacht zum 6. Juni dieses Jahres gab es eine Explosion im Wasserkraftwerk des Kachowka-Staudamms in der Ukraine. Darauf brach der Damm und das aufgestaute Wasser überflutete das Gebiet rund um den Unterlauf des Dnepr und die Stadt Cherson. Während sich Russland und die Ukraine gegenseitig beschuldigen, den Staudamm gesprengt zu haben, wird das gigantische Ausmass der Zerstörungen immer deutlicher: Mit seinen 18 Milliarden Kubikmetern Inhalt hat der Kachowkaer See ungefähr ein Drittel des Bodenseevolumens.

Valentin Siniy, der Leiter des «Tavrisky Christian Institute»

Tausende Häuser wurden überschwemmt, um die 16'000 Menschen in der «kritischen Zone» mussten evakuiert werden. Viele haben die achtmonatige Besetzungszeit durch Russland und zahlreiche Angriffe überstanden und stehen jetzt durch die Flut vor dem Nichts. Dazu kommen Umweltschäden durch verseuchtes Wasser, langfristige Energieausfälle, eine vernichtete Weizenernte und vieles Weitere. In einem Interview mit «Christianity Today» beleuchtet Valentin Siniy, der Leiter des «Tavrisky Christian Institute» (TCI) in Cherson, auch geistliche Aspekte der Katastrophe.

Die Situation des Seminars

Siniy beschreibt das TCI in Cherson als «Symbol für Wissen und geistliches Wachstum», das während der russischen Besatzung annähernd zerstört wurde: Bücher wurden verbrannt, Kunstgegenstände gestohlen und Gebäude beschädigt. Er selbst floh zu Beginn des Krieges mit einem grossen Teil der Studierenden nach Iwano-Frankiwsk, um dort den Studienbetrieb aufrechtzuerhalten. Natürlich informierte er sich regelmässig über die Lage in seiner alten Heimat «und gerade als wir dachten, wir hätten das Schlimmste überstanden, überschwemmte die Flutkatastrophe alles».

Die Schäden dadurch scheinen zwar ernst zu sein, aber die Gebäude lassen sich wohl wiederherstellen. Betroffen ist Siniy vor allem davon, dass eine schwangere freiwillige Helferin von russischen Soldaten getötet wurde, als sie Boote der Helfer beschlagnahmten. Für ihn ist klar: «Die russische Regierung ist gottlos und unmoralisch; sie vernichtet einfach Menschen.»

Wo ist Gott?

Obwohl sie selbst genauso betroffen sind wie die Menschen in ihrer Umgebung, helfen Christen ihren Nachbarn. Über internationale Kontakte stellen sie zum Beispiel Pumpen bereit oder Filter, um für trinkbares Wasser zu sorgen. Gleichzeitig ist der Glaube vieler Menschen stark erschüttert. Siniy hält fest: «Die Frage nach der Gegenwart Gottes ist häufiger geworden, da die Menschen mitten in ihrem Schmerz nach Trost suchen. Sie sehnen sich nach einem Glauben, der aus mehr besteht als vereinfachenden Behauptungen, einem Glauben, der mit der Komplexität der Situation umgehen kann.» Dies geschehe in erster Linie durch praktische Hilfeleistung und nicht durch Predigten.

Siniy merkt an, dass einige früher nur oberflächlich geglaubt hätten, doch auch ernsthaft Gläubige seien schwer verunsichert. Wenn es in Psalm 37 heisst: «Ich bin jung gewesen und alt geworden, doch habe ich nie den Gerechten verlassen gesehen, oder seinen Samen um Brot betteln» (Vers 25), dann sei das nicht mehr einfach in den Alltag zu übernehmen, auch Verheissungen wie die in 1. Korinther, Kapitel 10, Vers 13 hören sich jetzt nicht mehr selbstverständlich an: «Gott aber ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über euer Vermögen versucht werdet.» Ist ihr Erleben eine Strafe Gottes? Ist es einfach nur die Aggression Russlands? Warum handelt Gott nicht? Vor diesen Fragen stehen zurzeit viele Menschen in der Ukraine.

Die Einladung des Leids

Valentin Siniy weiss, dass er solchem Zweifel nicht mit einer Ansprache über Gott und seine Liebe begegnen kann. «Es ist am besten, einfach still bei ihnen zu sitzen.» Gleichzeitig denkt er an C. S. Lewis, der behauptet hatte, dass Leiden den Formalismus des Glaubens wegbrennen und die Menschen zu einer tieferen Beziehung zu Gott einladen würde. Auch das erlebt Siniy gerade. Menschen geraten ins Fragen und wenden sich Gott zu. «Erst letzte Woche habe ich in einem Gottesdienst gepredigt, in dem drei junge Menschen getauft wurden», freut er sich. Inmitten von Krieg und der katastrophalen Überschwemmung betont der Geistliche immer wieder, dass Gottes Kraft sie bewahre (1. Petrus, Kapitel 1, Vers 3-6).

«Es sind nicht unsere Besitztümer, die geschützt werden, denn sie wurden von den Fluten weggeschwemmt. Es sind auch nicht unsere Gefühle, die geschützt sind, denn wir leiden immer noch. Aber ich habe festgestellt, dass Gott unsere Hoffnung schützt und uns befähigt, auf seine Souveränität zu vertrauen. (…) Unsere Rettung kommt durch seine Kraft – auch jetzt –, denn sie gibt uns eine Orientierung für die Zukunft. Dies ist unser Anker, der uns in der Gegenwart verankert, während wir dort auf Gott warten.»

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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