Mit der Schwester auf der Flucht

Mutter Olga und Sohn Vanya aus Tscherkassy
«Ich war ein Flüchtling unter euch» ist das Thema des Flüchtlingssonntags 2023 der SEA. In dem Zusammenhang bringt Livenet eine Serie zu Flüchtlingen in der Schweiz. Heute berichtet der 14-jährige Vanya aus Tscherkassy, wie er die Flucht erlebte.

Nie mehr seit dem zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen als Flüchtlinge unterwegs, entweder als interne Vertriebene im eigenen Land oder als Flüchtlinge in einem ihnen fremden Land. Die UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der UNO, spricht von etwa 117 Millionen Menschen, die im Jahr 2023 Hilfe brauchen werden. Obwohl wir in Europa oft den Eindruck haben, dass nun wirklich nicht mehr Flüchtlinge Platz hätten bei uns, hat Europa bei weitem nicht die meisten Geflüchteten aufgenommen. Eines der Länder mit den meisten Geflüchteten und mit dem grössten Flüchtlingslager weltweit ist Bangladesch.

Am 20. Juni ist der internationale Flüchtlingstag der UNO, und viele Kirchen weltweit beten beteiligen sich an diesem Anlass, indem sie entweder am 18. oder 25. Juni in ihren Kirchen für Flüchtlinge beten oder Flüchtlinge einladen, um von diesen zu hören, wie es ihnen ergeht und wie Kirchen Flüchtlingen helfen können. In der Schweiz wird der Flüchtlingssonntag von der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) organisiert.

In den nächsten Wochen werden verschiedene Flüchtlinge, die aus verschiedensten Gründen in die Schweiz geflohen sind, von ihrer Flucht und ihrem Leben in der Schweiz erzählen. Den Anfang machen Olga und ihr Sohn Vanya aus der Ukraine.

Das Herz in zwei Teile gerissen

Olga hat drei Kinder: Anja, 25, Daniel, 21 und Vanya, 14. Sie kommen aus Tscherkassy, einer Stadt am Fluss Dnepr, nicht sehr weit von Kiev. Als der Krieg begann schrieb Olga an christliche Freunde in der Schweiz, ob sie für ein paar Wochen zu ihnen fahren dürften. Allerdings konnte der 21-jährige Daniel die Ukraine nicht verlassen, da er im wehrpflichtigen Alter ist.

Da Olga dachte, dass der Krieg in ein paar Wochen vorbei sei, schickte sie ihre Tochter und ihren jüngsten Sohn alleine los und blieb mit Daniel zurück. Als der Krieg nicht aufhörte, kam Olga dann vor fünf Monaten in die Schweiz zu ihrem jüngsten Sohn. Sie musste allerdings Daniel zurück lassen. Sie sagt, ihr Herz sei in zwei Teile zerrissen. Nun lebt Olga mit Vanya in einer Wohnung in der Nähe von Thun.

Im Interview erzählt Vanya, wie es ihm auf der Flucht ergangen ist und was er heute in der Schweiz macht.

Vanya, kannst du erzählen, wie ihr geflüchtet seid und wie es euch unterwegs ergangen ist?
Ich bin zusammen mit meiner Schwester mit dem Zug in die Schweiz gekommen. Ich muss sagen, dass ich viel von unserer Flucht vergessen habe. Zuerst waren wir aber mit dem Auto unterwegs bis an die polnische Grenze. In Polen waren viele Leute, die den Geflüchteten aus der Ukraine halfen, ihnen Essen brachten und sie ermutigt haben. In Polen wurden wir von einer Kollegin unserer Mutter abgeholt und in die Slowakei mitgenommen, wo wir ein paar Tage blieben. Von dort nahmen wir dann den Zug über Wien in die Schweiz.

Es war schwer, so plötzlich alles zu verlassen, vor allem meine Freunde. Ich hatte viele Freunde und nun kann ich nicht mehr so oft mit ihnen sprechen.

Wieso war die Schweiz euer Zielland?
Wir sind zu Schweizer Freunden gefahren, die wir schon seit über zwei Jahren kennen.

Wo lebst du jetzt und was machst du?
Ich habe mit meiner Schwester bei unseren Freunden gelebt, bis meine Mutter nachkam. Ich gehe hier in die siebte Klasse, in der Ukraine wäre ich in der achten Klasse, aber so habe ich vielleicht dann die Möglichkeit, hier noch ins Gymnasium zu gehen. Ich lerne auch noch online an der Ukrainischen Schule, wir haben da schon bald einen Test für das Ende des Schuljahres. Wir wären etwa 30 Schüler, die da zusammen online sein sollten, aber meistens sind es nur noch 10 bis 12. Ich habe von meinen Freunden in vielen Ländern gehört, dass sie eben lieber Zeit mit ihren Freunden verbringen als noch mehr Schule zu haben.

Wie ging es dir mit der Sprache als du ankamst, wie hast du dich verständlich gemacht?
Meine Mutter kann kein Deutsch und sie will zurück in die Ukraine, aber ich möchte bleiben. Als ich ankam, sprach ich kein Deutsch, ich habe mit den Klassenkollegen Englisch gesprochen, heute nur noch Deutsch. In der Willkommensklasse, wo ich zuerst war, wurde uns Deutsch unterrichtet, aber es war mehr spielerisch, das hat mir nicht gefallen. Nun haben wir eine ukrainische Lehrerin, die uns hilft. Sie erklärt sehr gut und ist auch etwas streng. Da meine Klassenkollegen alle Schweizerdeutsch sprechen, habe ich gelernt, es etwas zu verstehen.

Hat dein Glaube dir auf der Flucht geholfen?
Ich gehe hier am Sonntag in die Bewegung Plus in Thun. Wir haben immer wieder schlechte Nachrichten gehört, aber wir sind dankbar, dass für uns alles gut ging. Wir waren zwar sehr müde, aber es lief gut.

Die Serie zu Flüchtlingen in der Schweiz entstand im Zusammenhang vom Flüchtlingssonntag 2023, der am 18. Juni 2023 begangen wird. Weitere Informationen dazu finden sich hier.

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Autor: Barbara Rüegger
Quelle: Livenet / Dossier Flüchtlingssonntag 2023

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