«Ich bin halt auch nur ein Mensch»
Es gibt eine unvermeidbare Spannung zwischen dem Wunsch, die Welt zum Besseren zu verändern, gerechter und nachhaltiger zu leben, und dem Bewusstsein für die eigene Unvollkommenheit, in der oft die Bequemlichkeit und die Wünsche des Egos gewinnen. Paulus, der grosse Apostel und treue Diener Gottes, scheint diese Spannung gekannt zu haben: «Denn das Gute, das ich will, tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich» (Römer Kapitel 7, Vers 19). Die unbequeme Wahrheit ist: Ich kann mich nicht selbst zu einem besseren Menschen machen.
Der Franziskanermönch Richard Rohr, ein bekannter Theologe, schreibt: «Wir haben viele spirituelle Wesen, obwohl es doch viel nötiger wäre, dass wir lernen, echte menschliche Wesen zu sein. Vollkommene Menschlichkeit führt zwangsläufig zur Spiritualität.» Er spricht damit ein Problem der Religiosität an: Selbstverurteilung und Scham, eine einseitig moralische Frömmigkeit, angestrengtes Gutmenschentum und der verzweifelte Versuch, aus reiner Willenskraft das zu tun, was als das Richtige erkannt wurde.
Viele von uns, die in strengen religiösen Umgebungen aufgewachsen sind, haben Schwierigkeiten mit dem Konzept der Gnade und damit, «echte menschliche Wesen» zu sein. Die Stimmen fordernder Eltern, einer rigiden Kultur oder einer Kirche, die ständig mit erhobenem Zeigefinger dasteht, wirken oft lange nach. Das Paradigma von richtig und falsch kann uns in eine Enge treiben, in der das moralisch Geforderte zum starren Regelwerk wird und Glaube zur Anstrengung.
Die Ökonomie der Gnade
Interessanterweise bezeichnete sich Jesus selbst an den meisten Stellen der Bibel als «Menschensohn» und betonte damit selbstbewusst, was ich oft nur peinlich berührt zugebe. Das Reich Gottes ist immer menschenfreundlich und gerecht. Hier zählen ganz andere Paradigmen als die der Leistungsgesellschaft. Richard Rohr nennt das die «Ökonomie der Gnade». In dieser göttlichen Ökonomie geht es nicht um Erfolg oder Gewinn, sondern um das Wohl aller. Sie führt uns weg von der Angst, nicht genug zu sein, Fehler zu machen, hin zu einem Leben voller Vertrauen, Lernfreude, Grosszügigkeit, Gnade und Mitgefühl – mit uns selbst und anderen.
Es ist die liebende Kraft Gottes, die uns und diese Welt verändern kann, nicht meine Anstrengung und fromme Selbsterziehung. Gerechtigkeit ist ein Lernweg, auf dem wir mutig vorwärtsstolpernd lernen, kein einmaliger Ausruf der moralischen Selbstgerechtigkeit. Das Kreuz ist kein Ort des Vorwurfs oder der Beschämung. Es ist der Ort der Annahme, Gnade und Verbindung mit einer liebenden Kraft, die gerade an meinen Grenzen wirksam werden kann. Gott schenkt meinen Grenzen Frieden (Psalm 147).
Ich möchte mir Jesus als Vorbild nehmen und die Aussage «Ich bin halt auch nur ein Mensch» als liebevolle Erinnerung nutzen, mich mit meiner Menschlichkeit zu versöhnen und die Ansprüche der Leistungsgesellschaft im Licht der göttlichen Liebe hinterfragen zu lernen. Das bedeutet nicht, eine «Alles egal»-Haltung einzunehmen, sondern ehrlicher und freier mein buntes, unvollkommenenes Mensch-sein von göttlicher Gnadenkraft umarmen zu lassen.
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