«Trotzdem wähle ich die Hoffnung»
In den letzten Jahren ist mir vieles weggebrochen, von dem ich dachte: Niemals! (Und wenn, dann bitte erst, wenn ich 95 bin.) Im Internet suchte ich nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten für die Krebserkrankung meines Vaters und dann starb er. Trotz Gebeten. Trotz der neuesten, teuren Therapien. Ich hielt seine Hand und durfte seinen letzten Herzschlag spüren und vergoss bittere Tränen. Wenn tiefgläubige Christen sterben, ist dies nicht immer ein friedvolles Hinübergleiten. Das war eine verstörende Erkenntnis.
Ein Familienmitglied erkrankte und auch an dieser Front stellte ich mich auf meine Hinterbeine und stemmte Unmögliches. Nebenbei zerbröckelte meine Ehe mehr und mehr und kein Kitt dieser Welt konnte die Risse mehr heilen, die über die Jahre entstanden waren. Sie brach kurz nach dem Tod meines Vaters auseinander. Auch Freundschaften welkten. Nicht alle konnten mich gut auf diesem Weg durch mein Lebenstal begleiten.
Viele Sicherheiten sind gestorben. Auf globaler sowie auf persönlicher Ebene. Mein Glaube ist stiller geworden, fusst nicht mehr auf grossspurigen Heilsversprechen und geistlicher Selbstoptimierung. Er hört auf, in die Breite und Höhe zu wuchern. Stattdessen wächst er langsam in die Tiefe.
Zwischenzeit
Ich durchlebe eine Phase der Mutlosigkeit und Angst. Und ich frage mich: War das schon alles? Wird es nun immer so bleiben? Endstation Hoffnungslosigkeit? Meine Therapeutin sagte mir kürzlich: «Frau Smoor, Sie befinden sich in einer Zwischenzeit.»
Das erinnert mich an die Erzählung einer Zwischenzeit in der Bibel, an der ich mich festklammere. Die ich immer wieder heranziehe, wenn Angst und Mutlosigkeit nach mir greifen. Es sind die Stunden nach dem Sterben Jesu. Der Karsamstag. Ich denke über die Jüngerinnen und Jünger nach, für die der Tod ihres Rabbis ein traumatischer Schock gewesen sein muss. Ernüchterung. Ent-Täuschung. Das Schlimmste ist passiert, obwohl man gehofft hatte, die Geschichte würde anders verlaufen.
Wir kennen immer nur die Geschichte, die hinter uns liegt. Nie die Geschichte, die vor uns liegt. Und ich glaube, darin ein wenig vom Geheimnis des Karsamstags zu erahnen. Könnte der Punkt, von dem ich glaube, dass er das Ende ist, in Wahrheit ein Doppelpunkt sein?
Karsamstag ist die Zwischenzeit, der lange, dunkle Tunnel der Einsamkeit, der Krankheit, der Depression, der brüchigen Ehe. Karsamstag ist die Überzeugung, dass der Tod das letzte Wort hat. Dass die Wüstenzeit niemals weichen wird. Dass man sich im Leben getäuscht hat und verrückt war, jemals überhaupt geträumt zu haben. Karsamstag ist ein Grab.
Auf(er)stehen
Ich mache eine Pause vom Schreiben, führe meinen müden Körper hinaus in den neuen Tag, der so unschuldig sommerlich schön ist. Beim Spazierengehen kann ich meine Gedanken sortieren, Gott mein Herz ausschütten. An meinem Vorgarten laufe ich vorbei, der zu dieser Jahreszeit einem überquellenden Blumenkorb gleicht. Über mir kreist der Rotmilan. Und die nimmermüden Mauersegler, deren innerer Kompass sie in wenigen Monaten ins südliche Afrika führen wird.
Habe ich einen inneren Kompass, der mich am Grab meiner Lebensentwürfe vorbeiführt, hin zu neuen Perspektiven? Bin ich verrückt, mich der Hoffnung leise zu öffnen? Immer mehr glaube ich zu erkennen, dass die Auferstehungshoffnung mein innerer Kompass ist, mit dem ich durch das Leben navigieren will. Damit meine ich einerseits die wörtliche Auferstehung, die uns ganz am Ende erwartet wie eine mütterliche Umarmung. Aber auch die vielen anderen Auferstehungen, die wir im irdischen Leben wieder und wieder erleben:
Die Erfrischung nach einem Nickerchen und das Aufstehenkönnen am Morgen.
Die Überwindung einer Krise.
Die Resilienz.
Das Lachen nach dem Weinen.
Das Heilwerden einer Beziehung.
Das Wunder.
Das klärende Gespräch.
Die Heilung.
Die vielen Neuanfänge, denen tatsächlich, wie Heinrich Heine es einst schrieb, ein Zauber innewohnt.
Angst am Steuer
Letztens fragte mich eine Freundin, die mich eng begleitet: «Wie schaffst du es, mit Hoffnung zu leben?» Ich dachte eine Weile darüber nach und meine Antwort lautete: «Weil ich mit einem hohen Mass an Sturheit gesegnet bin und diese sich weigert, die Hoffnung loszulassen.»
Trotzdem drängelt sich von Zeit zu Zeit die Angst auf den Fahrersitz meines Lebens und übernimmt ungefragt das Steuer. Sie ist keine gute Navigatorin, denn sie bringt alles zum Stillstand. Dann muss ich sie behutsam auf den Beifahrersitz verfrachten und die Hoffnung ans Steuer setzen. Sie kennt zwar nicht den Weg, der vor ihr liegt, aber sie weiss, dass sie ihn bewältigen kann. Die Angst darf vom Beifahrersitz durchaus ihre Anmerkungen machen, aber sie hat keine Handlungsvollmacht mehr.
Steffen Kern drückt es in seinem Buch «Hoffnungsmensch» so aus: «Die Frage ‚Was darf ich hoffen?‘ ist zutiefst verbunden mit ‚Was muss ich befürchten?‘. Wir nehmen die Zukunft nicht nur in dem wahr, was wir erhoffen, sondern vor allem auch in dem, was wir befürchten. Angst ist die Kehrseite der Hoffnung. Angst vor kommenden Nöten, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Nichts. Die Frage ist, was uns bestimmt: Angst oder Hoffnung?»
Weil Angst untrennbar mit unserer menschlichen Existenz verwoben ist, kann ich sie nicht von mir abschneiden, aber ich nehme ihr immer wieder die Macht, indem ich ihr den kleineren Platz zuweise. Mein «Lebensnavi» habe ich vor einigen Monaten neu justiert: Ich möchte mich von Hoffnung und nicht von Angst leiten lassen. Als von Gott geliebter Mensch habe ich ein Licht, das die Dunkelheit nicht komplett verschlingen kann. In mir brennt eine Kraft – auch wenn sie noch so dünn ist –, die mich befähigt, weiterzuleben.
Nicht das letzte Wort
Hoffnung kultivieren bedeutet, mit der einen Hälfte meines Herzens den Ostersonntag zu erwarten und mit der anderen Hälfte für das Leben im Hier und Jetzt das Gute, das Überraschende, den Segen herauszufiltern.
Hoffnung sind unerwartete neue Freunde, die gemeinsam mit mir die Trümmer aufräumen. Hoffnung ist ein weiterer Tag, den ich geschafft habe. Hoffnung ist meine Therapeutin. Hoffnung ist Zeit, die den Wunden das Brennen nimmt.
Hoffnung ist ein Hineinflüstern Gottes in mein Leben. Das Gehaltensein. Trotz allem.
Hoffnung ist Schönheit, die mich umgibt und das Wissen um den Frühling nach dem Winter.
Hoffnung sind ein Hilfsnetzwerk und unerwartete Gesundung.
Hoffnung ist ein Gott, dessen geliebte Menschen wir sind. Hoffnung weiss tief im Innersten unseres Seins, dass das Leid, die Krankheit, die Depression, die Ehekrise, die Einsamkeit nicht das letzte Wort haben werden.
Hoffnung vertröstet uns nicht nur aufs Jenseits, sondern lüftet schon jetzt den Vorhang, hinter dem wir etwas von dem erahnen, wie die Welt sein könnte, wie sie einmal tatsächlich sein wird.
Eingerahmt von der Liebe
Wenn ich an den Himmel denke, dann kommt mir die Offenbarung des Johannes in den Sinn. Ein Buch der Bibel, welches häufig missbraucht wird, um mit der Apokalypse zu drohen. Aber die Offenbarung war und ist als Hoffnungsschrift gedacht: Weil sie verklausuliert dem Schreckensregime der damaligen Zeit die Maske herunterriss und die Christen tröstete, welche massiv bedrängt und verfolgt wurden.
Gott verspricht uns in diesem Buch, dass unser Leben eingerahmt ist von seiner Liebe wie zwischen zwei Buchstützen, aus denen wir nicht herausfallen können. Dass wir nichts anderes am Ende erleben werden als Trost und einen Frieden, wie wir ihn noch nie gefühlt haben. Dieser tröstliche Ausblick und das Versprechen, dass Gott es gut mit uns und seiner Schöpfung meint und macht und machen wird, sind meine Koordinaten, die ich in mein «Lebensnavi» eingebe. Und dann lasse ich die Hoffnung ans Steuer. Auch wenn wir beide den Weg nicht kennen…
Zum Thema:
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