Barmherzigkeit – Keine Schwäche, sondern Stärke

Helfende Hand
Spätestens seit Papst Franziskus wird wieder von Barmherzigkeit geredet. Sie bedeutet «Handeln wie Gott» und macht eine Gesellschaft human.

«Glücklich sind Menschen, die barmherzig sind, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren.» Wohl keine andere der «Seligpreisungen» von Jesus spiegelt den Charakter Gottes so tief wider wie diese. «Gnädig und barmherzig ist der Herr, voll Geduld und von grosser Güte», heisst es im Alten Testament viele Male. Es kann tragisch sein, wenn wir uns Gott zuerst als Allmächtigen, Gerechten und Allwissenden vorstellen. Mit Leidenschaft hat Jesus uns einen «Gott mit Herz» vorgestellt: einen Gott, den es tief im Inneren ergreift (das etwa ist die wörtliche Übersetzung), wenn er uns Menschen ansieht. «Gnade» ist Gottes Reaktion auf unsere Sünde, mit «Barmherzigkeit» reagiert er auf unsere Schwäche. Er vergibt Schuld und ermöglicht immer einen neuen Anfang.

Genauso – mit Barmherzigkeit – sollen wir der Schwäche und der Not anderer Menschen begegnen.

Kalte Gerechtigkeit

Es ist möglich, Gerechtigkeitssinn zu besitzen und dabei kein Mitleid für andere zu haben. Gerechtigkeit kann hart, kalt und gefühllos sein. «Wehe, wenn ihr anderen Menschen nur das gebt, was sie verdient haben», sagt Jesus seinen Zuhörern hier in der Bergpredigt. «Glücklich seid ihr, wenn ihr Menschen so begegnet, wie ihr möchtet, dass Gott euch ansieht.» Barmherzigkeit lässt sicher nicht «Fünfe grade sein»: Sie ersetzt die Gerechtigkeit nicht, geht aber weit über sie hinaus. Sie schaut auf die Person und gibt ihr immer wieder eine Chance.

«Easy, man»

Barmherzigkeit ist mehr als «Take it easy». Es gibt Menschen, die kann nichts erschüttern, weil sie sich der Not der Welt nie richtig ausgesetzt haben. Wer barmherzig ist, schaut «warmherzig» auf die Welt und die Menschen. Not lässt ihn nicht kalt, sondern beschäftigt ihn. Barmherzigkeit ist aber mehr als blosses Mitgefühl, fruchtlose Rührung oder «Man kann ja sowieso nicht allen helfen». In der Barmherzigkeit wird Emotion zur Aktion. In der Geschichte vom «Barmherzigen Samariter» zeigt Jesus, wie Barmherzigkeit sich die Finger schmutzig macht (Lukas-Evangelium, Kapitel 10, Verse 25-37). Sie kostet etwas. Bei Gott ist es ja auch so: Als er sich über die Welt erbarmte, sandte er Jesus, seinen Sohn. Gott packte an und machte sich die Hände an der Welt schmutzig.

Schau in den Spiegel

Ich staune immer wieder, wie barmherzig meine Frau, meine Familie und mein ganzes Umfeld mit mir sein muss. Ich kann nur leben, wenn man nachsichtig mit mir ist. Ich kann nur leben, wenn mir immer wieder vergeben wird. Um so unverständlicher ist die Geschichte von dem Mann, dem gerade eine grosse Schuld erlassen wurde und der dann einen kleinen Kollegen, auf den er trifft, total unbarmherzig beim Kragen packt und von ihm verlangt, seine kleine Schuld sofort zu bezahlen – unter Androhung von Gefängnis (Die Bibel, Matthäus-Evangelium, Kapitel 18, Verse 23-25).

Dieser «Schalksknecht» muss erleben, wie Gott ihm seine ganze Schuld nachträglich wieder zurechnet – eine ernste Sache. Denn das bedeutet doch: Gott geht mit uns nach den Massstäben um, wie wir andere beurteilen. Wer richtet, der wird gerichtet. Wer barmherzig ist, der bekommt Barmherzigkeit. Ein barmherziger Mensch beweist ja, dass er selbst immer wieder aus der Vergebung Gottes lebt. Darum hilft der Blick in den Spiegel, barmherzig zu werden. Der Barmherzige ist zuerst barmherzig (siehe die erste Seligsprechung).   

Das Gegenteil: Gleichgültigkeit

Das eigentliche Gegenteil von Barmherzigkeit ist nicht Unbarmherzigkeit, sondern Gleichgültigkeit. Vor dem «barmherzigen Samariter» gingen ein paar Leute, darunter fromme und geachtete, an dem Verletzten auf der Strasse vorbei. Heute würden sie ein Foto mit dem Handy schiessen, sich aber kaum die Finger schmutzig machen. Barmherzigkeit lebt nicht in medialer Distanz zu den Realitäten, sondern packt an.

Barmherzig mit mir selbst

Die schwerste Barmherzigkeit ist für viele Menschen die mit sich selbst. Sie können sich nicht vergeben, dass sie Fehler machen und unvollkommen sind. Darum gilt die Aufforderung Jesu vielleicht zuerst mir selbst und meinem Spiegelbild: «Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist» (Lukas-Evangelium, Kapitel 6, Verse 36-42). Gott, der Vollkommene ist Gott, der Barmherzige. Jesus Christus sah sich selbst als Opfer für die Schuld der Welt – auch Ihre persönliche. Gott ist barmherzig mit uns: das muss uns einen neuen Blick auf uns selbst und auf die anderen Menschen geben. Wer sein eigenes Herz kennt, hat den Schlüssel zum Herzen aller anderer Menschen.

In diesen Wochen beschäftigen wir uns mit den «Seligsprechungen» von Jesus. Nächste Woche: «Frieden stiften – eine ganz persönliche Sache».

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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Jesus.ch

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