Freikirchen haben Europa verändert

Jugendgottesdienst in der Freikirche Bewegungplus Thun
Viele Freikirchen prägen ihre Umgebung. Das wurde insbesondere in den vergangenen Jahren deutlich, ist aber schon deutlich länger so. Kurt Beutler macht einen Streifzug durch die Geschichte und schaut, welche Einflüsse Freikirchen bis heute haben.

Minderheiten wecken Misstrauen. Der Durchschnittsbürger betrachtet Freikirchen mit Argwohn. Er vertraut Landeskirchen viel eher. Zu diesen gehört die Mehrheit des Volkes und damit scheint garantiert, dass man nicht in Extremismus verfällt.

Doch leider hat das System Staatskirche auch eine Achillesferse. Auch Staaten können extrem werden. Und wenn Landeskirchen durch Verträge an weltliche Staaten gebunden sind, stehen sie plötzlich vor schwierigen Entscheidungen. Kirchen sollten zwar zur Gerechtigkeit mahnen. Wie die Geschichte zeigt, ist es aber selten, dass eine Kirche einem Staat widerspricht, an den sie sich gebunden hat und von dem scheinbar ihre Existenz abhängt. Die Gefahr, sich vom Staat für die eigenen Zwecke einspannen zu lassen und Schuld auf sich zu laden, ist gross. Das zeigt sich sogar im 21. Jhd. im ukrainisch-russischen Krieg.

Freikirchen dagegen haben ihren Namen davon, dass sie frei vom Staat sind. Noch vor wenigen Generationen wurden die Bürger Europas von den Regierungen gezwungen, zur jeweiligen Landeskirche ihres Wohnortes zu gehören. Freikirchen entstanden, weil Menschen sich offen oder insgeheim weigerten und die Ehe zwischen Kirche und Politik als gefährlich erachteten.

Druck in der Vergangenheit

Natürlich sind auch Freikirchler nur Menschen und auch da kann allerlei schief gehen. Aber die Zugehörigkeit ist ja per Definition freiwillig. Man kann jederzeit austreten. Vor dem Druck zu fliehen, der vom allmächtigen Staat, dessen Waffen und der ihm hörigen Volksmehrheit ausgehen kann, wird dagegen schnell unmöglich. Tausende und Abertausende verloren bei staatlichen Verfolgungen ihr Hab und Gut, ihre Kinder, ja, sogar ihr Leben, von den Waldensern (12. Jhd.) über die Lollarden (14. Jhd.), Hussiten (15. Jhd), Täufer, Mennoniten, Amische, Schweizer Brüder (16. Jhd.), Puritaner und Hugenotten (17. Jhd.) bis zu den Quäkern (18. Jhd.).

Toleranz wurde in Europa geboren

Nicht die Verfolgungen dieser Randgruppen in Europa sollten uns allerdings verwundern – denn derartiges geschah in allen Religionen weltweit und zwar seit jeher und bis heute in vielen islamischen, hinduistischen, buddhistischen und erst recht atheistischen Teilen der Welt. Intoleranz wurde nun wirklich nicht von Christen erfunden, wohl aber leider oft unbedacht übernommen. Was wir allerdings nicht übersehen sollten, ist, dass eines Tages die Toleranz, welche wir heute kennen, ausgerechnet in Europa geboren wurde – und blieb. Und wir sollten denjenigen Respekt zollen, welche die moderne Religionsfreiheit mit ihrem Blut erkauften. Juden und freikirchlich denkende Christen waren es hauptsächlich, welche sich konstant weigerten, dem Diktat der Staaten und ihrem Einheitsbrei nachzugeben. Beide begründeten ihre Andersartigkeit mit der Bibel. Beide waren treu bis in den Tod. Und dies schon lange bevor es Freidenker, Humanisten und Aufklärer überhaupt gab.

Kreativität führte zur Demokratie

Doch die Freikirchler waren nicht nur stur, sondern auch kreativ. Ihr Beitrag kam nicht mit Waffengewalt, sondern mit neuen Gedanken. Durch Denker wie den englischen Arzt und Puritaner John Locke, der vor 300 Jahren erstmalig die Demokratie erfand, die wirklich diesen Namen verdient, und zwar ausdrücklich als schützenden Rahmen, um allen Bürgern (sogar auch freikirchlichen Minderheiten) Recht auf Leben, Besitz und Meinungsfreiheit zu ermöglichen. Details dazu wurden im Faktencheck Christentum zur Demokratie erklärt.

Es waren von Lockes Schriften beeinflusste Quäker und Baptisten, welche später in Pennsylvania und Rhode Island seine Ideen erstmals politisch umsetzten. Nicht nur die Erfindung der echten Demokratie, sondern auch deren Verwirklichung haben wir also Freikirchen zu verdanken.

Der Heilsarmee ist es als bisher vielleicht einziger Freikirche gelungen, die Achtung der Allgemeinheit zu erlangen, weil sie in aller Öffentlichkeit gute Taten vollbringt. Die meisten Freikirchler gelten dagegen eher als sture Köpfe. Doch gerade diese Eigenschaft hat sie zum blutigen Martyrium befähigt. War nicht Jesus selber «stur», als er keines seiner Worte zurücknahm, obwohl das Volk schrie «kreuzige ihn!»?

Auswirkungen der Freikirchen in Europa

Dass wir heute in Europa trotz all den Fehlern der Namenschristen die Früchte der Bergpredigt von Jesus in Form von Religionsfreiheit und Menschenrechten, politischer Gleichberechtigung und Toleranz ernten dürfen, so dass Millionen von Asylsuchenden lebensgefährliche Wüsten und Meere überqueren, um hierher zu kommen, haben wir nicht den «Ja-sagern», sondern hauptsächlich den oppositionellen Freikirchen, Juden und von ihnen beeinflussten Bewegungen zu verdanken. Damit werden keineswegs die wertvollen Beiträge der Landeskirchen zur Geschichte Europas verleugnet, sondern ergänzt. 

Niemals wäre Europa ohne Freikirchen zu dem geworden, was es heute ist:

  • Sie lebten und forderten Toleranz zu Zeiten, als die Verfolgung Andersdenkender als selbstverständlich galt.
  • Ihre Mission war meist friedlich und freiwillig. Gemäss dem Vorbild von Jesus tendierten sie meistens überzeugt zum Pazifismus (es gab Ausnahmen, die sich wehrten).
  • Sie haben nie andere Länder kolonialisiert, sondern konzentrierten ihre Kräfte darauf, den Schwachen zu helfen.
  • Sie haben weltweit unzählige soziale Institutionen ins Leben gerufen, von Spitälern bis Waisenhäusern und von Schulen bis zu Behindertenwerkstätten.
  • Sie waren oft zu Unrecht verdächtigt, ganz einfach weil sie wie jede kleine Minderheit als suspekt galten, ertrugen viele Vorurteile, Hass und Spott, bis hin zu Mord, ohne Rache
  • Sie sind vielfach einfache, grundehrliche, bodenständige und opferbereite Menschen, welche mit Gott im Alltag rechnen und nicht nur über ihn philosophieren
  • Sie waren in der Geschichte Europas oft die Opposition, welche den Einheitsbrei hinterfragte und so aus dem Stillstand zu neuen Entwicklungen führte.
  • Manchmal waren sie aber auch die Konservativen, welche Fragezeichen hinter den Zeitgeist setzten und extreme Entwicklungen zu verhindern versuchten.

Wenn sich der moderne Europäer heute für die Geschichte des Christentums schämt, bezieht er sich auf die Verbrechen der Namenschristen. Dagegen hat er viel Grund, den Hut zu ziehen vor den Freikirchlern, welche sich meistens weigerten, Waffen zu tragen, und sich oft wehrlos hinrichten liessen.

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Autor: Kurt Beutler
Quelle: Livenet

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