Gott zerbricht unsere Spiegel
Jakobus zeichnet in seinem neutestamentlichen Brief ein seltsames Bild des Selbstbetrugs. Er erklärt: «Wer Gottes Botschaft nur hört, sie aber nicht in die Tat umsetzt, dem geht es wie einem Mann, der in den Spiegel schaut. Er betrachtet sich, geht wieder weg und hat auch schon vergessen, wie er aussieht.» (Jakobus, Kapitel 1, Vers 23-24). Bei diesem Mann, der vergisst, wie er aussieht, geht es ihm in erster Linie um Menschen, denen es scheinbar genügt, etwas über sich zu hören – das Umsetzen überlassen sie gerne anderen.
Das mag bis heute ein häufiges Verhalten sein, doch noch öfter liegt das Problem von uns Menschen nicht vor dem Spiegel, sondern in ihrem Spiegel begründet. Denn der Spiegel unserer Selbstwahrnehmung ist oft nur ein Zerrspiegel – entweder vergrössert er unser Abbild und nimmt uns in einem «aufgeblasenen», übersteigerten Ego gefangen, oder er verkleinert uns und redet uns eine nicht vorhandene Minderwertigkeit ein.
«Du bist der Grösste»
Es gibt Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Sie halten sich tatsächlich für die Grössten, überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten dramatisch und besitzen kaum Einfühlungsvermögen in andere Menschen. Diese Typen suchen überall nach Anerkennung und Zustimmung – und werden diese natürlich auch im Spiegel finden, wenn sie sich selbst betrachten. Aber abgesehen davon, dass alle Menschen auch narzisstische Züge besitzen, kommt das Krankheitsbild nicht sehr oft vor. Es scheint also nicht hilfreich zu sein, unsere verzerrte Selbstwahrnehmung nur von den Extrempunkten aus zu sehen. Tatsächlich kommt die scheinbare eigene Grösse in Kirchen und Gemeinden relativ oft vor, auch wenn sie dort einen frommen Anstrich erhält.
Es beginnt damit, dass wir in den Gottesdienst gehen, damit wir gesegnet werden – überspitzt gesagt ist das gesamte Sonntagmorgenprogramm mit allen beteiligten Protagonisten nur dafür da. Und unsere Haltung dabei ist ein fröhliches «Das steht mir zu. Gott verspricht doch seinen Segen…». Es geht weiter bei der Frage nach unserer Berufung, die übrigens unabhängig ist von einer Aufgabe im Rampenlicht. Stattdessen denken wir oder reden sogar davon, dass die Arbeit in der Gemeinde zwar wichtig ist, sich aber leider nie genug Leute dafür melden, deshalb müssen wir wieder einmal ran, denn wir sind dabei unentbehrlich. Viele scheinbar christliche Haltungen haben ihre Wurzeln in dieser Sehnsucht nach Grösse. Problematisch wird es vor allem, wenn wir versuchen, dies zu erreichen, indem wir andere klein machen. Oder auch, wenn wir an den eigenen Ansprüchen scheitern.
«Du bist nichts»
Das krasse Gegenteil ist die scheinbar christlich geprägte Perspektive der eigenen Wertlosigkeit. Bibelverse wie Römer, Kapitel 3, Vers 12 – «Alle haben sich von ihm abgewandt und sind dadurch für Gott unbrauchbar geworden. Da ist wirklich keiner, der Gutes tut, kein Einziger» scheinen dieses Weltbild zu stützen. Und eine defizitorientierte Rhetorik hält uns darin fest. «Ist dein ganzes Leben völlig von Gottes Liebe geprägt? Betest du genug?» Fragen wie diese lassen sich ohne schlechtes Gewissen kaum mit Ja beantworten. Wer unter einem solcherart verzerrten Selbstbild leidet, erlebt alle anderen als reifer, gesegneter und geistlicher als sich selbst.
Beiden Haltungen – der falschen Grösse wie der verkehrten Geringschätzung – liegt ein relativ geringes Selbstbewusstsein zugrunde. Über permanentes Vergleichen mit anderen soll das Selbstbild aufrechterhalten werden, doch die Motoren Stolz und Scham beschädigen dabei unsere Persönlichkeit.
«Du bist geliebt»
Da Christinnen und Christen dazu neigen, in der Bibel die Aussagen zu finden und für sich anzunehmen, die die eigene Haltung verstärken, ist Bibellesen allein kein geeignetes Hilfsmittel, um sich in den oben genannten Punkten weiterzuentwickeln. Wir brauchen offensichtlich noch die richtige «Brille» für einen realistischen Blick in den richtigen Spiegel. Johannes bietet in seinem Brief eine solche an: «Geliebte, wir sind jetzt Kinder Gottes, und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen aber, dass wir ihm gleichgestaltet sein werden, wenn er offenbar werden wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.» (1. Johannes, Kapitel 3, Vers 2)
In den benachbarten Versen geht es um alltägliches Gemeindeleben, den Umgang mit lieben und nicht so lieben Glaubensgeschwistern, die Fragen nach Sünde oder auch Hoffnung, aber vor allem geht es darum, Gott zu sehen, wie er ist, und uns im Licht seiner Liebe zu sehen: in all unserer Grösse oder auch Kleinheit, in all dem, was uns als Menschen ausmacht. Wenn wir erkennen und anerkennen, dass wir geliebt sind, dann beginnt sich unser Selbstbild zu verändern. Dies ist kein Automatismus, und die Rückfallquote in alte Sehgewohnheiten ist hoch, aber es ist der einzige Weg zu echter Selbsterkenntnis. Und wenn Stolz und Scham uns im Wege stehen, dann zerstört Gott in seiner Gnade diese Zerrbilder von uns mit seiner wiederholten Zusage: «Du bist geliebt!»
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