Über die Kraft des Mitgefühls
Dein Buch heisst «Ein 10/33 Leben» – was meinst du damit?
Das Buch ist gefüllt mit ehrlichen Geschichten von Menschen, die sich – ähnlich wie der Samariter im Lukas-Evangelium – Nöten annehmen und nicht vorbeigehen. Mein tiefer Wunsch war es, ein starkes «Warum» hinter dem damit verbundenen Mitgefühl zu finden. Das habe ich dann nach einer intensiven Zeit genau in Lukas, Kapitel 10, Vers 33 entdeckt. Dort wird beschrieben, dass der Samariter nur deshalb reagiert, weil ihn die Not des Mannes innerlich unfassbar stark bewegt. Diesen «Wendepunkt» in der Geschichte lesen wir oft wie selbstverständlich mit. Doch die Schönheit und unbändige Kraft von Mitgefühl, die sich in diesem Vers zeigt, ist lebensverändernd. Weg von einem 08/15 Leben hin zu einem von ehrlichem Miteinander geprägten 10/33 Leben zu gelangen, ist der Herzschlag des Buchs. Ein Leben, in dem wir nicht nur etwas bewegen, sondern auch selbst zulassen, innerlich bewegt zu sein. Diese Botschaft erzählen die Lebensgeschichten.
Was können wir von dem barmherzigen Samariter lernen? Wie können wir heute Ungerechtigkeit begegnen?
Der Samariter rettet nicht die ganze Welt. Er kennt seine Handlungsmöglichkeiten und weiss sich befähigt. Er setzt seine Ressourcen gut ein, übernimmt sich aber nicht. Ich liebe es, wie Jesus in dieser Geschichte zeigt, wie Nächstenliebe und Selbstfürsorge funktionieren. Ausserdem hat der Samariter keine handlungsbasierte Motivation. Wie eben beschrieben, ist seine Herzenshaltung entscheidend. In einer Welt, die uns sehr oft sagt, was wir alles tun sollen, beschreibt Jesus hier viel mehr, was wir sein sollen. Wir müssen nicht barmherzig tun, wir dürfen barmherzig sein. Wie wir diesem Wesenszug Jesu nacheifern und ihm ähnlicher werden können, indem wir anderen mit Mitgefühl begegnen, ist für mich zu einem Grundelement von Nachfolge geworden. Die Wände der Ungerechtigkeit bestehen zwar immer noch, aber es gibt eben einige Wege, die es uns ermöglichen, trotzdem einen Unterschied zu machen. Ein Knackpunkt ist dabei auf jeden Fall, sein eigenes Herzensthema zu finden.
Für dein Buch hast du dich auf der Suche nach Samaritergeschichten in der heutigen Zeit gemacht. Und du bist tatsächlich durch ganz Deutschland gefahren und hast in einer Woche fast 30 Menschen besucht. Wie hast du die Menschen gefunden?
Das waren die verrücktesten Geschichten. Einige Personen sind mir sozusagen «vor die Füsse gefallen», andere habe ich durch Recherchen kennengelernt und ein Drittel durch Empfehlungen. Das Schöne daran war, dass ganz oft meine Anfragen schon vorbereitet waren. Es hat entweder unfassbar gut in die jeweilige Lebenssituation gepasst oder die von mir angefragten Personen hatten etwas zu erzählen, von dem ich so gar nicht hätte wissen können. Das war für mich total besonders. Ich habe in dieser Zeit noch mal mehr gelernt darauf zu achten, wann Gott mir einen Frieden über eine Entscheidung schenkt. Ein paarmal hatte ich keinen Frieden, und kann im Nachhinein sagen, dass es gut war, darauf zu hören.
Welche Geschichten haben dich am meisten bewegt?
Ich habe bewusst Menschen gesucht, deren Geschichte erst wenige gehört haben. Trotzdem sind manche bekannte Gesichter in dem Buch vertreten. Hauptsächlich habe ich mich für Menschen interessiert, die nicht primär im Rampenlicht stehen und im ganz «normalen» Alltag ihr Umfeld auf einzigartige Art und Weise prägen. Von Kinderonkologie über Asylheim und Sonderschule bis hin zum Extremsport. Bewegt hat mich dabei der Herzschlag von jedem Einzelnen und die Freude, die sie dabei ausstrahlten, von ihren Herausforderungen und Träumen zu erzählen. Menschen mit leuchtenden Augen zuzuhören, begeistert mich jedes Mal aufs Neue.
Was hast du für dich aus diesen Begegnungen mitgenommen?
Während der Reise selbst war es zunächst die Vielfalt an Möglichkeiten und das verrückte Roadtrip-Gefühl, an einem Tag in drei Bundesländern zu sein. Nach der Reise waren dann mein Kopf und Notizbuch voll und ich habe ganz viel «zu verarbeiten» mitgenommen. In so kurzer Zeit habe ich mich intensiv mit Themen wie Inklusion, Rassismus, Klassismus, Ausgrenzung, aber auch mit Pioniergeist, Gerechtigkeit und ganz viel Nächstenliebe auseinandergesetzt. Als ich dann Zuhause an meinem Schreibtisch sass und alles zusammengetragen habe, habe ich erst erkannt, was ich auf der Reise am meisten mitgenommen hatte: Ein Verständnis dafür, wie Jesus ist, und wie er damals wie heute Menschen begegnet und Leben verändert.
Du hast nicht nur ein Buch herausgegeben, sondern auch die Initiative «sick of pretending», also «es leid sein, so zu tun als ob» gegründet. Was verbirgt sich hinter dieser Initiative?
«sick of pretending» (SOP) ist in zwei Teilbereiche aufgeteilt. Zum einen sind es in sich geschlossene Projekte, die ich inzwischen mit meinem Mann und kleinen Teams leite und bei denen wir Themen aufgreifen, für die wir unsere Stimme erheben möchten. Ein Projekt war z. B. «Jingle Bowls». Ein durch Fundraising finanziertes Projekt, welches das Ziel hatte, Obdachlosen in Stuttgart an Heiligabend ein warmes Essen zu ermöglichen. Das Projekt fand so viel Unterstützung, dass wir zusätzlich noch Schlafsäcke, Decken und Hygiene-Artikel verteilen konnten.
Ein anderes Projekt ist «Herz.Ton.Haus». Dort ermöglichen wir Eltern von fehl- oder stillgeborenen Kindern einen kostenfreien Kurs, den sie Zuhause per Videoanleitung durchführen können. Der Kurs dient dazu, ihnen auf kreative Weise durch das Herstellen eines Tonhauses einen Raum und ein Zuhause für die Trauer um ihr Kind zu schenken.
Wie sind diese Projekte entstanden?
Diese Projekte sind einfach dadurch entstanden, dass wir in unserem Umfeld «stille Leidende» wahrgenommen haben. Genau diesen unter den Teppich gekehrten Nöten in der Gesellschaft möchte sich «SOP» annehmen. Immer so, wie wir es im Rahmen unserer Handlungsmöglichkeiten können. Das Wort «Initiative» bleibt bestehen und wir haben bisher keinen Verein geplant. Damit bieten wir Menschen unverbindlich die Möglichkeit, Teil davon zu sein. Die Finanzierung ist auch nicht wie man vermuten könnte in einer typisch gemeinnützigen Art, sondern wird je nach Projekt geplant. Das «Herz. Ton.Haus»-Projekt wird z. B. durch den Verkauf von den «Ein 10/33 Leben»-Büchern ermöglicht.
Was gibt es bei SOP noch ausser den konkreten Projekten?
Der zweite Teil ist ein «Mindset-Netzwerk». Die Aussage «Ich will nicht mehr so tun als ob» liegt so vielen auf dem Herzen. Die Autorinnen und Autoren sind dort laut geworden, wo es leichter gewesen wäre, still zu sein und haben damit nicht mehr «so getan als ob». Jeder, der diesen Artikel liest, kann sich daher im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten einfach anschliessen. Eine Freundin von mir war es leid, dass die Kinder mit Sprachbarrieren so selten zu Kindergeburtstagen eingeladen wurden, und hat ihre Kinder gefragt, ob es okay wäre, wenn sie einen mehrsprachigen Kindergeburtstag feiern. Es war ein tolles Fest. Damit war sie Teil vom Mindset von «sick of pretending». Oder man geht mit der älteren alleinstehenden Dame von gegenüber Kaffee trinken, weil man nicht so tun will, als ob Alterseinsamkeit kein Thema wäre. Überall da, wo wir zunächst von Überforderung gebremst werden, soll der Leitsatz «sick of pretending» uns Mut geben, die gemeinsame Kraft der Nächstenliebe zu erleben. Du, die das gerade liest, bist also Teil von «sick of pretending». Dabei liebe ich die Metapher, dass jeder von uns eine kleine Lampe ist und wir gemeinsam zu einer gigantisch strahlenden Lichterkette werden.
Wenn du selbst mal wieder von der Not der Welt überwältigt wirst – was hilft dir dann dabei, dich wieder auf das zu konzentrieren, was möglich ist?
Diese Frage hat mich sehr stark beschäftigt, weil ich auf keinen Fall ein «easy – lets make the world a better place»-Buch herausgeben wollte. Meine persönliche Antwort wurden die drei B‘s: Bewusstsein, Bekenntnis und Bestimmung. Das führe ich im Schlussteil des Buches recht ausführlich aus. Klar ist: Wir haben in unserem Glauben an den lebendigen Gott eine total geniale Logik und Befähigung. In einer Welt, die gleichzeitig Atombomben baut und Krebs heilen möchte, hilft der Blick auf einen Gott, der über Leben und Tod regiert. Ausserdem haben mir einige Schlüsse, die ich auf meiner Reise ziehen konnte, in der sachlichen Ebene geholfen. Wenn ich beispielsweise mal wieder frustriert über Egoismus bin, erinnere ich mich daran, dass dieser häufig nicht aus Ignoranz, sondern aus Überforderung wächst, und dann weiss ich, dass mein Gegenüber nicht mit einer kalten, sondern mit einer zuckenden Schulter vor mir steht und er – wie wir alle – keine Verurteilung, sondern Vertrauen braucht. Bei all dem vertraue ich selbst darauf, dass Gott mir die richtigen Handlungsmöglichkeiten am richtigen Ort schenkt. Ich weiss, dass ich weder aus einer «Ich muss das tun»- noch aus einer «Ich kann das nicht»-Haltung handle. Genau in der Mitte zwischen Perfektion und Resignation fühle ich mich wohl, tätig zu sein.
Zum Buch:
Ein 10/33 Leben
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