Politik ohne Macht?
Ein Blick in die Geschichte zeigt es: Katastrophen, kriegerische Auseinandersetzungen, soziale Missstände, das Verletzen von Menschenrechten, Unterdrückung und Diskriminierungen gibt es seit Menschengedenken.
In jüngster Zeit häufen sich allerdings die Meldungen in Zeitungen und Beiträge in elektronischen Medien über Kriege, Klimakatastrophen und Pandemien. Dabei ist es spannend zu beobachten, dass über Jahre entwickelte Positionen plötzlich hinterfragt oder gar umgestossen werden. Offenbar werden aktuelle Bedrohungen plötzlich als «sehr nahe» empfunden. Sie rufen deshalb nach neuen Reaktionen.
Das Umdenken geschieht manchmal schnell
Dass Neupositionierungen nicht ganz einfach sind und doch in kürzester Zeit vollzogen werden können, zeigt sich deutlich an den zwei folgenden Beispielen.
Über Jahrzehnte priesen Wirtschaftskreise die Globalisierung als Fortschritt. Die Aufhebung von Handelshemmnissen galt als Rezept für Wohlfahrt und Wohlstand. Es waren aber nicht die gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen in den «Partnerländern», die ansatzweise zu einem Umdenken führten. Nein: Unterbrochene Lieferketten und Lücken in der Versorgung von Wirtschaft, Handel und der Bevölkerung rüttelten uns auf und führten zum Ruf nach vermehrter inländischer Produktion und Lagerhaltung.
In den letzten Jahren hat der Wunsch nach Abrüstung und Verringerung der Armeebudgets abgenommen. Nun erwacht aber auch in armeekritischen Kreisen plötzlich der Ruf, vermehrt Waffen ins Ausland zu liefern – und das sogar an «aktive» Kriegsparteien. Es waren aber nicht die aktuell 28 Kriege, die teilweise seit Jahrzehnten das Leben und die Existenzgrundlagen von unzähligen Menschen zerstörten und zerstören, die zu diesem Umdenken geführt haben. Nein, ein grausamer Krieg, der uns plötzlich nahe geht und bei uns Angst um die eigene Sicherheit und den eigenen Wohlstand auslöst, haben dieses Umdenken provoziert.
Die Politik kann gestaltet werden …
Diese Neupositionierung von Parteien und Organisationen scheint den Tatbeweis zu erbringen, dass sich Haltungen verändern können, dass es möglich ist, eigene Meinungen einzubringen und dass sich Mehrheiten in Sachfragen plötzlich verändern können.
Solche Entwicklungen sind der Gegenbeweis für Menschen, die glauben, man könne sowieso nichts verändern. Das gilt auch für Christinnen und Christen, die kein Vertrauen in den Austausch von Meinungen und den Wert von Diskussionen haben. Und die Botschaft geht auch an Frustrierte und/oder an Menschen, die sich der Gesellschaft verweigern und ihr Heil in der eigenen Subkultur zu finden glauben.
Offensichtlich ist es möglich, dass in grundsätzlichen Fragen zu «Krieg und Frieden», sozialer Gerechtigkeit, Wertevorstellungen und zum gesellschaftlichen Gemeinsinn plötzlich Eckwerte verschoben werden können. Offensichtlich ist es möglich, dass einzelne Personen und Gruppierungen in der Auseinandersetzung mit aktuellen Ereignissen sogar die allgemeine Meinung – den «Mainstream» – verändern können. Und das auch zum Guten!
… auch vom Zeitgeist
Als werteorientierter Mensch bin ich überzeugt, dass selbst «meine 'christlichen Haltungen'» stark geprägt sind von meinem sozialen Umfeld, von persönlichen Erfahrungen, Bedürfnissen, Werten, gesellschaftlichen Situationen und Einstellungen. Selbst mein Verständnis von Gott und seinem Wirken ist davon geprägt.
Ist dies stossend? Verkenne ich damit zeitlose Werte, Glaubensgrundsätze, moralische Vorstellungen und «Wahrheiten»?
Berufungen wirksam ausleben
Mein Verständnis der Bibel motiviert mich, dass ich als «Ebenbild Gottes» meine Gaben kennen und entwickeln lernen darf. Ich soll und darf meine Talente ausleben und darin «Berufung» finden, «Spielwiesen» zur Gestaltung meines Lebens und dasjenige meiner Nächsten – mit grösserem oder kleinerem Radius. Diese Berufung hat etwas Befreiendes. Sie befreit mich dazu auszuleben, was in mein Herz gelegt ist, wofür mein Herz schlägt, wofür ich meine «Talente» einsetzen kann. Und ich glaube, dass ein «befreites Leben» auch Wirkung entfaltet.
Die Ohnmacht hat nicht das letzte Wort
Menschen mit verschiedensten Persönlichkeitsprofilen können Ohnmacht empfinden. Aktuell beschäftigen gemäss dem Sorgenbarometer die Bevölkerung der Schweiz unter anderen die folgenden Themen: Umweltschutz, Klimawandel, Umweltkatastrophen, AHV und Altersvorsorge, Energiefragen und Versorgungssicherheit sowie die Beziehungen zur EU.
Sorgen nehmen unsere Gedanken in Anspruch. Ich denke, das kann durchwegs heilsam sein. Wir setzen uns vertieft mit einem Thema auseinander, suchen nach Antworten und Lösungen. Vielleicht planen wir in der Folge, unser Leben umzugestalten und suchen nach Möglichkeiten, die «Rahmenbedingungen» unseres Lebens aktiv zu gestalten.
Klingt für Sie der Bibelvers «Suchet der Stadt Bestes» zu abgedroschen? Vielleicht. Für mich sind biblische Aufforderungen und Verheissungen eine Motivation, meine Erfahrungen und meinen Lebens- und Gestaltungswillen einzubringen. Ich folge weder einem Gefühl der Ohnmacht noch bin ich wirklich ohne Macht. Vielmehr ist mir mein Glaube ein Ansporn, mich befreit, betend und lustvoll einzubringen und mein Umfeld mitzuprägen. Könnte dies allenfalls sogar die Idee des allmächtigen Gottes sein, als er uns als seine Ebenbilder schuf?
Zum Autor:
Philipp Hadorn ist verheiratet mit Karin, Vater von drei erwachsenen Söhnen, ist Zentralsekretär einer Gewerkschaft, in der Beratung und Leitung verschiedener NGOs tätig und war 2011 bis 2019 Mitglied des Nationalrates (SP SO). Seit 1995 lebt er in Gerlafingen, wo er sich in der evangelisch-methodistischen Kirche engagiert.
Dieser Artikel erschien zuerst im Forum Integriertes Christsein
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