Wenn Kirchen von der Kneipe das Singen lernen

Freunde singen in einer Kneipe
Gemeinsamer Gesang gehört zu einem Gottesdienst wie der Ball ins Fussballstadion. Nicht erst seit Corona nimmt er aber deutlich ab. Immer weniger Besucher in Kirchen und Gemeinden singen mit. Das lässt sich ändern, findet Mike Frost.

Nein, früher war nicht alles besser. Aber manches war anders. Meist gab es bei freikirchlichen Gottesdiensten eine musikalische Begleitung, die sich auf Klavier und Gitarre beschränkte, dafür sang die Gemeinde kräftig mit. Wo eine Orgel zum Einsatz kam, waren dagegen schon viele Sängerinnen und Sänger nötig, um sich stimmlich durchzusetzen. Seit etlichen Jahren gibt es jedoch einen starken Trend: Die musikalische Professionalität und Ausstattung auf der Bühne steigt. Längst hat fast jede Gemeinde ihre Band dort stehen, oft mit einer guten Solistin.

Da sich viele Lobpreisstücke von Melodie und Komplexität eher für Sologesang als fürs gemeinsame Singen eignen, wurde es auf den Bühnen der westlichen Kirchen lauter, in den Gemeindesälen dagegen immer stiller. Coronakonforme Gottesdienste mit grossen Abständen zwischen den Singenden und einem Mundschutz verstärkten dies noch deutlich. Der australische Theologe Mike Frost beobachtet: «Haben Sie bemerkt, dass in Ihrer Kirche kaum noch jemand die Gemeindelieder singt? Ich schon.» Allerdings kommt er nicht zu dem klassischen Schluss, dass das eben so sei und sich nicht ändern liesse. Schon gar nicht bei Männern. Auf seiner Website betrachtet Frost stattdessen Chor-Aktionen in Pubs und meint, dass Gemeinden von ihnen einiges lernen können.

Ein Kneipenchor mit Herz

2017 organisierte die Sängerin und Dirigentin Astrid Jorgenson ein «Pub Singing»: 80 Teilnehmende meldeten sich an und übten unter ihrer Anleitung «Slice of Heaven», einen 1980er-Jahre-Ohrwurm, als dreistimmiges Stück ein. Ohne Ausbildung, aber mit viel Herzblut und Begeisterung sangen die Menschen das Lied – ein kurzer Clip darüber bei YouTube wurde zum viralen Erfolg und bald trafen sich nicht nur eine Handvoll Menschen in der «Bearded Lady» im australischen Brisbane, sondern bis weit über 1'000 in grossen Hallen.

Sie zahlen einen kleinen Obolus und singen mit, weil sie Spass am Singen haben: Alte und Junge, Männer und Frauen. Jorgensens Idee war von Anfang an: «Wir wollen einfach, dass Leute vorbeikommen und sich als Teil von etwas fühlen können. Sie sollen keine Angst davor haben, in der Öffentlichkeit zu singen. Der Pub Choir bietet die Möglichkeit, Hemmungen abzulegen und das Singen einfach zu geniessen.» Und diese Idee ging auf.

Kann Kirche von der Kneipe lernen?

Natürlich ist das Singen im Gottesdienst etwas anderes als das in einem Pub-Chor, doch Mike Frost zieht ein paar Vergleiche, über die es sich lohnt nachzudenken. Was wäre…

  • … wenn die ganze Gemeinde wie ein grosser Chor wäre? Manchmal ist das bereits so, doch oft gibt es die «Profis» auf der Bühne, den geschulten Chor, der fantastisch singen kann – und manch ein Gemeindemitglied weiss genau, dass es da nicht mithalten kann, schweigt lieber und verpasst jede Menge Freude beim Mitsingen.
     
  • … wenn die Lieder einfacher wären? Auch in Kirchen und Gemeinden gibt es Ohrwürmer – Lieder, die alle mitsingen können und wollen, weil sie eingängige Melodien und leicht verständliche Texte haben. Wenn diese dann noch in der «richtigen» Tonart angestimmt werden, macht das Mitsingen wieder Spass.
     
  • … wenn Lobpreisleiter sich als Chorleiter verstehen würden? Die meisten von ihnen singen die Lieder einfach selbst und man kann selbstverständlich mitsingen. Astrid Jorgensen als Dirigentin singt auch, aber in erster Linie dirigiert sie, gibt Einsätze, übt schwierigere Passagen ein und animiert alle zum Mitmachen.
     
  • … wenn alle zum Mitsingen ermutigt würden? Normalerweise gibt es in Gottesdiensten die Aufforderung: «Das nächste Lied singen wir alle gemeinsam», doch für viele schwingt dabei mit: «falls du gut genug bist». Frost unterstreicht: «Wir brauchen Lobpreisleiter, die sich nicht darum kümmern, ob der Gesang perfekt ist oder nicht, sondern deren strahlende Gesichter und blitzendes Lächeln uns alle dazu einladen, aus voller Kehle zu singen.»
     
  • … wenn die Stimmen wieder in den Vordergrund kämen? In vielen Gottesdiensten ist die musikalische Begleitung so dominant, dass ein Mitsingen kaum wahrgenommen wird – das ist nicht besonders motivierend. Die Kneipenchöre singen mit wenigen Instrumenten oder sogar a capella, so steht das gemeinsame Singen im Vordergrund und es entsteht ein starkes Gemeinschaftsgefühl, ein Wissen: Wir sind zusammen unterwegs.

Jorgensen verspricht ihren Spontan-Chören, dass es niemandem auf einzelne Top-Stimmen ankommt: «Du bist gut genug, das versprechen wir dir.» Als grosse Familie hätte Kirche es sogar noch leichter, dieses Versprechen zu geben und umzusetzen.

Der Luther-Faktor

Ganz neu ist das Orientieren an Kneipengesängen für die Kirche übrigens nicht. Schon der Reformator Martin Luther übernahm für einige seiner Liedtexte Melodien, die im Wirtshaus gesungen wurden. Einige seiner Kritiker fanden das unmöglich – das Volk aber sang einfach mit. Luther selbst zuckte nur die Achseln, so wie viele seiner Nachahmer in der christlichen Geschichte.

Der Evangelist Dwight Moody und der Gründer der Heilsarmee William Booth bedienten sich ebenfalls bei eingängigen Wirtshausliedern. Der christliche Rockmusiker Larry Norman drückte diese Haltung mit einem Satz aus, den bereits einige der oben genannten Prediger so ähnlich gesagt hatten: «Why Should The Devil Have All The Good Music?» (Warum sollte nur der Teufel die gute Musik haben?).

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet