Herzen ohne Mauer
Weshalb hast du in den letzten Jahren mehrere Kurzbiografien ostdeutscher Christen zusammengetragen?
Viola Ramsden: Es war schon seit Langem mein Wunsch, ein Buch über die Christen in Ostdeutschland zu schreiben. Ich bin in Sachsen aufgewachsen, habe aber insgesamt 20 Jahre in Westdeutschland und dann in London gelebt. Im Ausland reflektiert man oft seine Identität. Irgendwann habe ich angefangen, Blogs zu schreiben, in denen ich über die Themen der dritten Generation Ost – also meiner Generation – nachgedacht habe. Es gab viele Rückmeldungen dazu – und oft haben die Leute ihre eigene Geschichte erzählt. 2019 bin ich mit meinem Mann und meinem Sohn nach Deutschland zurückgekommen; wir leben inzwischen in Dresden. Das Thema Ost-Identität hat mich seitdem noch mehr beschäftigt. Nach einem Artikel in der Zeitschrift Family kam das Angebot vom Verlag SCM Hänssler, ein Buch zu schreiben.
Was möchtest du in diesem Buch weitergeben?
Ursprünglich wollte ich die Themen aus meinem Blog aufarbeiten. Um mehr Daten zu bekommen, habe ich angefangen, mit Ostdeutschen – vom Kriegskind bis zum Nachwendekind – über ihre Lebenserfahrung zu sprechen. Alle haben sehr offen von sich erzählt und mir wurde klar: Diese Lebenserfahrungen sind Schätze! Ich habe dabei so eine Begeisterung und Leidenschaft für diese Biografien und für die Leute im Osten gewonnen! Es schmerzt mich sehr, dass über Ostdeutsche so oft kritisch und manchmal abwertend gesprochen wird. Teilweise werden sie auch lächerlich gemacht. Es war mir wichtig, über diese Menschen wertschätzend, liebevoll und verständnisvoll zu schreiben. Und zu zeigen, wie das Leben hier wirklich ist. Ich wollte eine andere Seite präsentieren – jenseits der Klischees und der Stigmatisierung.
Welche Unterschiede zwischen Ost und West nimmst du denn wahr?
Diese scharfe Grenze zu ziehen, finde ich nicht hilfreich. Ich glaube, erstmal ähneln sich Menschen aus dem Osten und Westen auch. Sie teilen die verbreiteten Wünsche, Träume und Sehnsüchte, die Fragen nach dem Sinn des Lebens. Aber selbst jetzt noch wird der Westen als die Norm und der Osten als Abweichung davon thematisiert – anders als die Unterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Bayern. Wenn man ostdeutsch ist, muss man sich ständig in diesen Kontext einordnen oder abgrenzen. Als ich 1995 – also kurz nach der Wende – nach Cuxhaven gegangen bin, war ich als Ostdeutsche im Westen immer die Fremde. Aber gleichzeitig war da ein hoher Druck, gleich zu sein, weil man ja auch deutsch war. Die Leute sind mir immer freundlich begegnet, ich habe da viele ganz tolle Freundschaften geschlossen. Aber das Westdeutsche wurde ganz selbstverständlich als allgemeingültig gesehen. Oft habe ich gedacht: Nein! Bei uns in der DDR und im Chaos der Wendejahre war alles anders. Ich habe dazu aber nichts gesagt, mich ein bisschen angepasst und dadurch ein Stück von mir verloren.
Wie hat die DDR-Zeit Christen und Kirchen in Ostdeutschland geprägt?
Die landeskirchlichen Gemeinden waren in der DDR sehr offen und haben viele Leute integriert, auch Nichtchristen. Mit ihren Friedensgebeten haben sie die Wende vorangetrieben. Sie waren ein Ort, wo man eine Freiheit leben konnte, wie das sonst in der Gesellschaft nirgends möglich war. Der Satz: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen» war im Osten politisch spannungsvoll. Er sagt aus: Ich muss mich nicht diesen diktatorischen Regeln und Einschränkungen in der Gesellschaft beugen. Aber diese Freiheit hatte Konsequenzen: Wenn Christen aus Glaubensgründen nicht alles mitmachen wollten (Pioniere, FDJ, Jugendweihe, Bausoldaten), wurde ihnen der Zugang zu Abitur, Studium und Karriere verweigert. Das waren grosse Entscheidungen, die sich für viele bis heute auswirken. Da nahmen Menschen ganz bewusst Opfer auf sich, ohne viel Aufhebens zu machen. Weil sie Gott mehr gehorchen wollten als den Machthabern. Diese Entscheidung musste im Westen niemand treffen.
Können die Christen im Westen davon lernen?
Von der Haltung der Christen zu DDR-Zeiten können wir alle etwas lernen: «Christ zu sein bedeutet für mich Freiheit: In dieser Freiheit habe ich einen Lebensraum und einen Schatz. Und dafür nehme ich auch Nachteile in Kauf. Christsein kann etwas kosten. In dieser Gesellschaft, aus der viele Menschen einfach nur verschwinden wollen, dürfen wir Hoffnung haben und um Frieden beten.»
Ich glaube, wir im Osten können viel gelassener damit umgehen, dass die Gesellschaft säkularer wird. Das ist bei uns schon seit 70 Jahren so und trotzdem hat die Kirche hier überlebt und wird auch weiter bestehen. Durch Friedensgebete in den Kirchen entstand eine friedliche Revolution: Was für ein Wunder! Dass die Christen im Osten und auch im Westen so viel gebetet haben, hat wirklich viel bewegt. Wir sollten uns wieder mehr bewusst werden, wie viel Kraft in unserem Gebet liegt.
Welche Biografie hat dich besonders bewegt?
Jede Lebensgeschichte hat mich auf ihre Weise tief berührt, aufgewühlt – und vor allem auch sehr überrascht. Immer kam etwas zu Tage, mit dem ich nie gerechnet hätte. Und wenn ich jetzt über mein Buch rede, fangen viele an, mir aus ihrem Leben zu erzählen. Dieses Gespräch ist so wichtig und auch so heilsam! Ich wünsche mir, dass auch Westdeutsche sich interessieren, nachfragen und dadurch die Menschen in Ostdeutschland verstehen.
Zum Buch:
Herzen ohne Mauer
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