Der Missbrauch und die Freikirchen
Es ist Osterzeit. In den Gemeinden wird landauf landab von Auferstehung, neuem Leben und der Hoffnung der Christen gesprochen. Draussen blühen bereits die Magnolien und die Hummeln summen. Und da hinein soll ein Artikel über Missbrauch passen? Nein, er soll da nicht hineinpassen, denn er passt nie. Das Gespräch darüber ist immer ein Stimmungskiller, ein Themenwechsel, eine Auseinandersetzung, bei der es keine «Gewinner» geben kann – und gerade deshalb ist es so wichtig. Wenn ich hier als Laie meine persönliche Meinung in Form eines offenen Briefs an die Freikirchen schreibe, ist das sicher einseitig, angreifbar und unvollständig, aber als jemand, der sich als Christ inzwischen über 40 Jahre in diesem gemeindlichen Umfeld bewegt, habe ich den Eindruck, jetzt nicht schweigen zu dürfen.
Betroffene
Seit Jahren gerät das Thema der sexualisierten Gewalt und des Missbrauchs nicht mehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Es ist dabei kein kirchliches, sondern ein gesellschaftliches Thema. Aber ausgerechnet Kirchen und Gemeinden, die sich in besonderer Weise an die Seite der Opfer stellen und moralische Massstäbe, die sie bei anderen anlegen, auch selbst einhalten sollten, präsentieren sich immer wieder als Gemeinschaften, die Taten vertuschen, Täter schützen und eher das Image der eigenen Organisation im Blick haben als die Opfer.
Ein Betroffener konstatiert auf der Themenseite einer Aufarbeitungskommission: «Das ist keine Aufarbeitung, das ist auch kein Wille zur Aufarbeitung. Das ist einfach nur der Versuch, möglichst nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, was Mitarbeiter der Kirche Menschen angetan haben.» Tatsächlich dreht sich ein Grossteil der Diskussion darum, wie Schaden von den Kirchen abgewendet werden kann und nicht darum, Menschen, die schwerstes Leid erfahren haben, Recht zu geben, sie um Vergebung zu bitten, ihnen Entschädigung und Hilfe anzubieten und alles dafür zu tun, dass sich Missbrauch in den Strukturen von Gemeinden, Chören, Internaten, Kinder- und Jugendgruppen, Büros, Seelsorgeverhältnissen und vielen weiteren Umfeldern nicht wiederholt. Ich spreche hier nicht von der Diskussion, die öffentlich stattfindet, denn hier geht es scheinbar schon um die Opfer. Dass es in Wirklichkeit nur selten um sie geht, erkennt man an den zögerlichen Umsetzungen auch nur kleinster Schritte in Richtung Veränderung.
Reaktion der Freikirchen
Das hier soll aber kein Blick auf die «grossen» Kirchen sein. Bis auf einzelne Missbrauchsfälle gibt es aus den Freikirchen – wobei ich hier von der kleinen Brüdergemeinde bis zur grossen modernen Citychurch alle zusammen meine – nur wenige Fälle, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Aber findet in den Freikirchen wirklich weniger Missbrauch statt? Als sich in den 2010er Jahren immer mehr Betroffene aus der katholischen Kirche zu Wort meldeten, galt dieser Missbrauch als katholisches Problem aufgrund von Faktoren wie dem Zölibat oder unterdrückter Sexualität bzw. Homosexualität. Die Freikirchen waren aus dem Schneider. Als vor Kurzem Missbrauchsfälle in grösserer Anzahl in den evangelischen Landeskirchen publik wurden, war klar, dass andere Mechanismen wie Macht- und Gewaltfantasien dahinterstanden. Wieder waren die Freikirchen nicht im Fokus – weil sich bei diesen «intensiv evangelischen Christen», wie sie Angela Merkel einmal bezeichnete, das Problem nicht darstellte? Bis jetzt herrscht in unseren Freikirchen die Grundhaltung vor: «Betrifft uns nicht!» oder etwas demütiger «Glücklicherweise betrifft es uns noch nicht!» Einzelne Gemeinden stellen sich dabei einzelnen Vorkommnissen aus ihrer Vergangenheit. Einige Verbände arbeiten an Konzepten, wie sich Missbrauch in Zukunft verhindern lässt. Ein echter Blick zurück, der Opfer in den Blick nimmt und Täter benennt, findet nicht statt!
Ein Appell
Die katholische Kirche tut sich mehr als schwer, zwischen ihren konkurrierenden Studien diejenige auszuwählen, bei der sie noch am besten wegkommt. Über die aktuelle protestantische ForuM-Studie hält Hella Thorn fest: «Schon vor Erscheinen … war klar: Eine umfangreiche und umfassende Aufklärungsarbeit sieht anders aus.» Und die Freikirchen? Ihre unabhängigen Strukturen machen sicherlich ein gemeinsames Aufarbeiten schwerer, aber die Mischung aus Wegducken und Nach-vorne-Schauen ist keine Lösung! Momentan könnten die Freikirchen sogar einen Weg gehen, der den Opfern in ihren eigenen Reihen und ihnen selbst am meisten dienen würde, einen Weg, den bis jetzt noch niemand gegangen ist:
Liebe Verantwortliche in unseren Freikirchen. Ihr müsst nicht warten, bis Opferverbände, Sammelklagen und öffentliche Wahrnehmung euch dazu drängen, euch der eigenen Schuld zu stellen und ebenfalls einmal genau hinzuschauen. Noch könnt ihr proaktiv werden. Es wäre ein echtes Signal an die Opfer, die eigenen Gemeinden und die gesamte Gesellschaft. Natürlich wäre dies mit einem gewaltigen Imageschaden verbunden – aber den wird es sowieso geben. Und er macht Kirchen und Freikirchen nicht schlechter, als sie tatsächlich sind. Es mag sich naiv anhören, aber ich bin davon überzeugt: Gott würde sich über solche Schritte freuen.
Zur Website:
Aufarbeitungskommission
Forschungsergebnisse ForumM
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