Palliativmediziner Sitte: «Alles daran ist falsch»
In den Niederlanden gilt seit Februar eine neue Verordnung, die es schwer leidenden Kindern unter zwölf Jahren ermöglicht, auf eigenen Wunsch aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Bisher galt die Regelung für Kinder ab zwölf Jahren. Nach wie vor ist erforderlich, dass bis zum Alter von 16 Jahren die Eltern dem Wunsch des Kindes zustimmen. Aktive Sterbehilfe ist das Töten sterbenskranker Menschen auf deren Verlangen hin. In Deutschland ist sie verboten. Die Richtlinie in den Niederlanden hat unter deutschen Palliativmedizinern für Entsetzen gesorgt.
Thomas Sitte, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Palliativstiftung, kritisiert die Entscheidung im Nachbarland scharf. «Alles daran ist falsch. Es ist ein absolut falscher Weg», erklärte Sitte in einem Interview mit T-Online vom Donnerstag.
Es gebe andere Wege, das Leiden sterbenskranker Kinder zu beenden, ohne aktive Sterbehilfe zu leisten. Sitte hebt hervor, dass die Zahl der Kinder, die für diese Regelung infrage kommen würden, sehr gering ist. Der Mediziner spricht in dem Interview von einem «niedrigen einstelligen Bereich». Für diese Kinder sei kein Gesetz notwendig, die Palliativmedizin biete Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern, ohne das Leben unnötig zu verlängern.
«Letzter Schritt zur Normalisierung»
Zu dem Einwand, dass die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichten, um das Leid schwer erkrankter Kinder zu lindern, erklärte Sitte: «Die Fälle müssen Sie mir zeigen, bei denen die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichen, um Leid zu lindern. Ich kenne keinen einzigen, und ich habe mehr als zehntausend Menschen – auch viele Kinder – beim Sterben begleitet.» Der Mediziner hält es für grundfalsch, dass die aktive Tötung in den Niederlanden erlaubt wurde und spricht von der aktuellen Ausweitung auf Kinder von einem «letzten Schritt zur Normalisierung».
Sitte bemängelt in dem Gespräch, dass in Deutschland zu wenig über die Möglichkeiten von Palliativmedizin aufgeklärt werde und wirft Politik und Medien Untätigkeit vor. Allerdings sei selbst unter Ärzten das Wissen nur wenig verbreitet.
«Am besten gar kein Gesetz»
Weil er «keine Chance sehe, dass die geschäftsmässige Suizidassistenz wieder verboten wird, wäre es am besten, es kommt gar kein Gesetz mehr», sagt der Mediziner zu dem Umstand, dass in Deutschland nach einer gesetzlichen Regelung der Selbsttötung gerungen wird. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 das bis dahin geltende Verbot für die geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung gekippt und mit seinem Urteil das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben auch mit Assistenz Dritter bestätigt.
Thomas Sitte gilt als Experte im Bereich der Palliativmedizin und als ein engagierter Befürworter der Verbesserung der Betreuung sterbenskranker Menschen. Der Facharzt für Anästhesiologie und Palliativmedizin setzt sich insbesondere dafür ein, das Leiden von Patienten am Lebensende zu lindern, ohne auf aktive Sterbehilfe zurückzugreifen. Die Deutsche Palliativstiftung engagiert sich für die Verbesserung der Palliativversorgung.
Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin
Zum Thema:
Palliative Versorgung: Hilfe für ein würdevolles Sterben
Über Einheit und Klarheit: Keine Palliativ Care in den Kirchen
Sterbehilfe in Deutschland: Palliativmediziner: «Niemand muss verrecken»