Neue Gemeinden gründen: «Im Prinzip ja, aber…»
Freikirchen in Deutschland sind nach wie vor aktiv in der Gemeindegründung. So hat der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden angekündigt, dass er bis 2033 500 neue Gemeinden gründen will. In der Bewegung, die im Jahr 2024 ihr 150-jähriges Bestehen feiert, ist die Heranbildung neuer Pastoren der Schlüssel zu ihrer Wachstumsstrategie. Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland hat in den letzten zehn Jahren 200 Gemeinden gegründet. Er ist auf etwa 500 Gemeinden mit 42'000 Mitgliedern angewachsen. Der Bund FEG plant, bis 2030 70 neue Gemeinden zu gründen, also 15 pro Jahr, und bis 2040 weitere 200.
Die andere Seite: Nach einer Studie von Dr. Philip Bartholomä hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) allein zwischen 2002 und 2012 fast drei Millionen Mitglieder verloren. Grosszügig gerechnet sind die vier grossen freikirchlichen Gemeindeverbände in Deutschland zusammen genommen in diesem Zeitraum um insgesamt nicht mehr als 20'000 Mitglieder gewachsen.
Klar: Die strategische Gründung neuer Gemeinden hat in katholischen Ländern wie Frankreich oder Spanien zu deutlichem Wachstum evangelikaler Gemeinden geführt, was erfreulich ist. Aber kann man aufs Ganze gesehen und für sich genommen Gemeindegründung als den evangelistischen Schlüssel sehen? Es gibt kritische Stimmen.
Anfängliche Erfolge
Dr. Stefan Paas ist Professor für Missiologie und interkulturelle Theologie an der Freien Universität Amsterdam und Professor für Missionswissenschaft an der Theologischen Universität Kampen. Seit 2010 forscht er im Bereich von «Church Planting». Paas beschreibt sich als «skeptischen Befürworter von Gemeindegründungen» und kritisiert die freikirchliche Neigung zur Einseitigkeit, wo numerisches Wachstum als ein Hauptzeichen für Erfolg betrachtet wird. Tatsächlich glaubt er nicht, dass «Ehrgeiz, Elan und Zielsetzung» wirklich funktionieren, wie er in einem Gespräch mit «Christianity Today» (CT) erklärt. Paas' Forschungen zeigen, dass Ansätze auf der Angebotsseite – die Idee, dass «wenn man eine neue Gemeinde pflanzt, die Leute auch kommen werden» – vielversprechend erscheinen und oft anfängliche Erfolge zeigen, aber die Ergebnisse meist verpuffen.
Dynamik durch die Hintertür
Die Annahme sei weit verbreitet, dass die Gründung neuer Gemeinden zu Wachstum führe, doch das sei nicht bewiesen, so Paas. «Ja, neuere Gemeinden neigen dazu, mehr Menschen und mehr Bekehrte anzuziehen, aber sie verlieren auch mehr», erklärt er gegenüber CT. «Es gibt eine Dynamik durch die Hintertür, bei der Menschen in neuere Kirchen kommen, sie dann aber wieder verlassen.» Er untersuchte die Mitgliederstatistiken der Freien Evangelischen Gemeinden von 2003 bis 2017 und fand heraus, dass Gemeindegründungen oft mit schnellem Wachstum, aber dann mit einem langsamen Rückgang verbunden sind. «Es ist eine Sache, Menschen anzuziehen, und eine andere, sie zu halten», sagte er.
Laut Paas liegt ein Teil des Problems darin, dass «die Dinge, die Menschen in neue Kirchen locken, wie grossartige Musik, dynamische Predigten und ein Gefühl echter Leidenschaft für eine Sache, sich nicht in eine tiefere Jüngerschaft umsetzen lassen». Die Menschen engagieren sich nicht stärker, und wenn die Kirche nicht mehr neu oder aufregend ist, verschwinden sie wieder. Paas: «Menschen dazu zu bringen, zur Tür hereinzukommen, ist keine so grosse Herausforderung wie eine tiefe, sinnvolle und lebensverändernde Verbindung herzustellen.» Die Folge: Viele Neuankömmlinge bleiben nicht lange.
Mehr «Wie» als «Wieviel»
Paas empfiehlt, Christen sollten sich mehr auf die Kontextualisierung, das Ausprobieren neuer Dinge und die Ausbildung von Pastoren zum Aufbau echter Beziehungen konzentrieren. Während Gemeindegründungs-Strategen oft argumentieren, dass vor allem Ehrgeiz und Zielsetzungen notwendig seien, um Menschen für die Evangelisierung der Welt zu mobilisieren, seien Gemeindegründungen in Europa durch Experimentieren und Kreativität erfolgreich, so Paas. «Experimentelle Räume und neue Ausdrucksformen sind viel wichtiger als traditionelle Gemeindegründungen», sagte er. «Innovation ist viel wichtiger als wachstumsorientiertes Unternehmertum»
Rein quantitative Zielsetzungen förderten eine «Copy-Paste»-Mentalität. Paas: «Vieles was ich sehe, reproduziert Modelle, die aber nicht in jedem Fall den säkularen Kontext gerecht werden. Zum Beispiel: Was machst du mit einem Willow Creek-Modell im Kontext von Ostdeutschland? Es ist einfach ein Unterschied, ein «Christ» in Europa und insbesondere in Ostdeutschland zu sein, als in den USA. Ich glaube Gemeindegründung muss sorgfältig durchdacht sein und gründlich erforscht werden – wie in einem guten Labor.» Als gutes Beispiel nennt Paas das Projekt «StartUp» in Eisenach (D).
More, new and better churches
Es braucht nach Paas also nicht nur «More churches», sondern auch «New churches» und vor allem «Better churches», wie er in seinem Buch «Church Planting in the Secular West» festhält. Der Gemeindeforscher glaubt, dass der Erfolg weniger mit den grossen Zielen als mit den schwierigen zu tun haben werde; er hat mit der täglichen Arbeit zu tun, «Freunde zu gewinnen, Verbindungen aufzubauen, den Menschen Gottes Liebe zu zeigen und sie einzuladen, sich vorzustellen, dass der christliche Glaube für ihr Leben relevant sein könnte». Denominationen empfiehlt er: «Es braucht vor allem eine Menge Vertrauen und Freisetzung für die Gründer und Starter, einen interessanten Mix von divergierenden Menschen, Künstlern, Geschäftsleuten, Sozialarbeitenden etc., die ausgesandt werden, ein neues Umfeld zu kreieren. Hierfür braucht es viel Gestaltungsfreiheit, neues Denken, neue Einrichtungen und ungewöhnliche Plätze, um unterschiedliche Ansätze und Modelle auszuprobieren.»
Wer glaubt, dass die Gemeindegründung in Europa schnell und einfach vonstatten geht, sollte besser zu Hause bleiben, so Paas gegenüber CT. «Andernfalls werden Sie enttäuscht sein und vielleicht sogar Ihren Glauben verlieren.» Paas hat seinen nicht verloren. Wenn er die Missionsarbeit auf dem ganzen Kontinent betrachtet, findet er Hoffnung in der Verheissung von Paulus in 1. Korinther Kapitel 1, Verse 18-31 – dass Gott törichte Dinge benutzt, um göttliche Ziele zu erreichen. «Ich weiss, dass dies Gottes Werk ist», sagt er. «Wenn ich das nicht glauben würde, könnte ich nachts nicht schlafen.»
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