Pfarrer Andreas Hess: Zuhören und Perspektive wechseln
Am 24. Februar 2023 jährt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Für die Menschen im betroffenen Land begann der Krieg jedoch bereits am 21. Februar 2014. «Dieser Tag markiert die Geburtsstunde der modernen Ukraine. Mit dem ersten Schuss damals hat Putin das Land verloren», sagte Referent Pfarrer Andreas Hess.
Hess reiste bereits als Student regelmässig in den Osten und knüpfte Kontakte. Dabei machte er bei den Zugreisen eine Erfahrung, die er als Sinnbild Europas bezeichnet: Je östlicher der Zug unterwegs war, um so langsamer ging die Reise voran. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das beziehe sich auf die Kultur, die Politik wie auch auf die Zivilisation, so Hess.
Die Ukraine, seit 1991 unabhängig, liegt zwischen der westlichen und der östlichen Welt. Hess bezeichnet die Ukraine als Sandwichland, als Land mit zwei Türen. «Land an der Grenze» heisst Ukraine übersetzt und zeigt damit die schwierige Lage auf. Hess sagte dazu: «Es gibt weder im Westen noch im Osten eine natürliche Grenze, wie etwa eine Bergkette. Das Land ist schutzlos und offen.»
Zwei prägende Einzelschicksale
Während der Osten des Landes slawisch und orthodox ausgerichtet ist, ist der Westen römisch-lateinisch und christlich geprägt. Im Westen sind auch die reformierten Kirchgemeinden beheimatet, zu denen Pfarrer Hess intensiven Kontakt pflegt. Kaum hatte der Angriffskrieg begonnen, erhielt er die ersten Anrufe zur Unterstützung. Dabei ist es ihm wichtig, den Menschen vor Ort zu begegnen und ihnen zuzuhören. Die Geschichten zweier Frauen begleiten ihn. Eine Dolmetscherin erzählte ihm von ihrem Sohn, der in der ersten Kriegsstunde ums Leben kam. Ihr einziger Trost ist, dass der Sohn selber nicht zum Mörder wurde.
Die zweite Frau traf Hess vergangenen Herbst, in Begleitung der Grossmutter und vier Kindern. Die Frau wollte mit ihren zwei Kindern nahe Kiew den Wochenendeinkauf erledigen und nahm zwei Nachbarskinder mit. Als sie zurückkehrten, war der Wohnblock komplett zerstört, die Eltern der Nachbarskinder tot. So floh sie mit den Kindern in den Westen und holte später die Grossmutter nach. «Hinter jedem Menschen steht ein Einzelschicksal», sagte Hess.
Kirche kann versöhnend wirken
Hess führte auch aus, wie seiner Meinung nach Frieden gelingen könnte. Es braucht eine Kultur des Zuhörens. Hess sagte: «Die Menschen müssen neu lernen, aufeinander zu hören, nicht zu werten und das Gesagte stehen zu lassen, damit alles Platz hat.» Dem anderen Gastrecht geben im Denken, lautet seine Devise. Hier sieht er auch die Chance der Kirche, da unterschiedlichste Menschen aus unterschiedlichsten Schichten zusammenkommen. Nur gemeinsam könne der Heilungsprozess gestartet werden, in dem man die eigene Geschichte erzählt und die Sicht des anderen einfliessen lässt. Versöhnung schaffen, indem man die Perspektive wechselt. Solange es die Kirche gibt, ist Hess überzeugt, besteht die Möglichkeit zur Entfeindung. Und die Chance, dass die Politiker in diesem Fahrwasser mitkommen.