Weniger Gottesdienste gefeiert, mehr Menschen erreicht
Was war das Konzept des «neuen Gottesdienstes»?
Jonas Goebel: Wir feiern nicht mehr jeden Sonntag einen anderen Gottesdienst. Wir haben uns auch von den Perikopen und dem agendarischen Gottesdienst verabschiedet. Wir bieten unsere Gottesdienste so an, wie ein Theater üblicherweise seine Stücke anbietet. Das bedeutet: Wir planen «Spielzeiten» (das sind bei uns drei Monate) und in diesem Zeitraum gibt es jetzt eben nicht mehr zwölf verschiedene Gottesdienste, sondern vier. Statt zwölf Gottesdiensten mit zwölf Abläufen und zwölf Predigten gibt es bei uns nur noch vier verschiedene Gottesdienste, vier Abläufe, vier Predigten.
Was bedeutet das für die Vorbereitung?
Wir bereiten sie dafür intensiver vor, sie unterscheiden sich untereinander deutlich in Setting, Atmosphäre, Musik, Gestaltung.
Welche Grundidee steckte dahinter?
Wir wollen möglichst vielen Menschen verschiedene Anlässe geben, einen Gottesdienst zu besuchen. Der Fokus liegt weniger auf Menschen, die oft kommen, sondern stärker auf viele Menschen, die seltener (aber eben häufiger als sonst) kommen.
Vor 1,5 Jahren habt ihr das Projekt gestartet. Wie sieht die Bilanz aus?
Hervorragend! Wir haben im Vergleich zum «alten Konzept» über doppelt so viele Menschen in unseren Gottesdiensten begrüssen dürfen. Es kommen aber nicht nur mehr, sondern vor allem sehr viel mehr verschiedene Menschen. Wenn wir den Gottesdienst «Lagerfeuer & Abendmahl» draussen anbieten, dann kommen bei dem zweiten und dritten Mal (es ist ja jeweils der identische Gottesdienst!) rund 70 Prozent das erste Mal. Sprich: Die meisten Menschen besuchen die Gottesdienste nicht mehrfach.
Habt ihr mit dem neuen Konzept Kraft gespart oder kostet es mehr?
Ich würde sagen: Weder noch. Es ist erstmal kein Modell, um Arbeitszeit zu sparen. Was sich verändert hat, ist die Art und der Zeitpunkt der Vorbereitung. Wir planen unsere Gottesdienste nun Monate vorab und es gibt gerade beim Zusammenstellen eines neuen Gottesdienstprogrammes sehr viel Arbeit. Aber wenn dann erstmal alles geplant ist, dann braucht es kaum noch Zeit für Vorbereitung etc., da wir die Gottesdienste ja mehrfach identisch feiern. Auch bei den Predigten: Ich schreibe jetzt deutlich weniger Predigten und kann mir deshalb pro Predigt mehr Zeit nehmen.
Was waren Tops, was Flops?
Manche unsere Gottesdienste werden von 20 und andere von 120 Menschen besucht. Es ist im Vorweg für uns oft kaum ersichtlich, welche Angebote gut ankommen und welche nicht. Besonders schlecht kam der Gottesdienst «Künstlerische Freiheit» an, bei dem man sich kreativ (mit ganz viel Kreativmaterial) mit dem Predigttext auseinandersetzen konnte. Am besten besucht waren bislang Gottesdienste mit Gospelmusik und Chören. Allerdings sind für uns manchmal auch Gottesdienste «top», auch wenn sie nicht besonders gut besucht sind – und dafür Menschen zu Gast sind, die wir sonst nicht oder weniger erreichen. Wir feierten «Bibel & Bier: Tasting!»-Gottesdienste. Es waren nicht sehr viele Menschen da, aber eben «andere». Das ist dann für uns auch ein Erfolg!
Welchen Stellenwert räumt ihr der Predigt ein?
Für mich persönlich ist die Predigt der Kern des Gottesdienstes. Aber ich muss ehrlich zugeben: Das gilt vermutlich nicht für die Mehrheit der Besucher. Dennoch gibt es bei uns eigentlich keinen Gottesdienst ohne Predigt und in den meisten Fällen ist diese auch – für landeskirchliche Verhältnisse – eher lang als kurz. Meine Predigten gehen oft 20 bis 25 Minuten. Das ist aber auch abhängig vom jeweiligen Gottesdienst.
Wie kommt ihr auf die Ideen?
Am Anfang waren die meisten Ideen von mir. Unsere Kirchenmusikerin (übrigens schon über 70 und eigentlich eine ganz «klassische» Kirchenmusikerin) hat sich aber sehr schnell von dem Konzept anstecken lassen und hat ganz viele Ideen beigesteuert. Inzwischen kommen auch viele Ideen aus der Gemeinde selbst heraus oder sie entstehen in Zusammenarbeit mit Musikern aus der Region. Wir feiern jetzt mit einem Orchester Gottesdienst. Ich hatte sie angefragt, ob sie Lust haben, dabei zu sein, und dann meinten sie, dass sie schon mal die Arche Noah-Geschichte musikalisch verarbeitet haben und, zack, war eine neue Idee da. Wir haben aktuell eine ziemlich lange Liste an Ideen, weil sich viele Menschen einfach von der Freiheit in der Gottesdienstgestaltung haben anstecken lassen.
Was empfiehlst du Gemeinden, die anfangen, an ihrem Gottesdienstkonzept zu schrauben?
1. Mit Hoffnung starten! Veränderung ist möglich.
2. Immer als Pilotprojekt starten. Man muss nicht gleich alles für immer ändern, sondern startet mal für drei Monate oder so und geht im Zweifel zurück oder startet was anderes nach den drei Monaten. Mehr Start-Up Mentalität: einfach ausprobieren und machen, ggf. scheitern, und dann was anderes ausprobieren.
3. Weniger Fokus auf eine kleine Kerngemeinde. Es gibt sehr viel Menschen da draussen, die durchaus ab und zu oder in einer seltenen Regelmässigkeit einen Gottesdienst besuchen. Diese Menschen halte ich für die aktuell wichtigste Zielgruppe. Es ist schwierig, die zu erreichen, die sich innerlich distanziert haben. Es entspricht nicht unserem Auftrag, sich nur auf eine kleine Kerngemeinde zu konzentrieren. Die Mitte dazwischen, da sehe ich unser kirchliches Potential. Menschen, die sich eben grundsätzlich vorstellen können, einen Gottesdienst zu besuchen. Wo der Glaube vielleicht manchmal eher diffus als konkret ist.
4. Wir brauchen ein Ausprobieren, Ausprobieren, Ausprobieren. Ich habe bis heute keine Ahnung, was wann wie ankommt. Manches funktioniert, vieles auch nicht.
5. Es gilt nach Anlässen zu suchen, die vor allem über das Setting und die Musik funktionieren. Ich erlebe, dass Menschen kommen, weil sie es toll finden, am Lagerfeuer Gottesdienst zu feiern (Setting) oder weil sie gerne Gospelmusik hören (Musik). Aber sie kommen eben nicht, weil der 85. Sonntag nach Trinitatis ist und weil die Predigt über Lukas 50, Verse 4 bis 87 geht.
6. Wir sollten das Potential der Region ausschöpfen, gerade was Setting und Musik angeht. Gibt es Bands, Orchester, Chöre, mit denen man zusammenarbeiten kann? Gibt es besondere Orte wie Park, Bar etc., die man anfragen könnte?
7. Investiert in professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Bitte nicht ein wunderschönes Konzept mit tollen Inhalten in ein hässliches Layout giessen.
Jonas Goebel ist Pastor in der Ev.-Luth. Auferstehungskirche Hamburg-Lohbrügge, Autor von «Jesus, die Milch ist alle», Podcaster und Blogger von juhopma.de.
Zur Website:
Ev.-Luth. Auferstehungskirchengemeinde Hamburg-Lohbrügge
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