Gerechtigkeit im Alltag leben
«Das Thema Gerechtigkeit ist gross, und es gibt viele Zugänge dazu», hält Lukas Gerber im Livenet-Talk fest. Der Theologe ist Koordinator Theologie und Bildung bei Stop Armut und engagiert sich in dieser Funktion für die Verbreitung des Just people-Kurses. Er unterstützt Gruppen und Einzelpersonen, die sich konkret mit dem Thema Gerechtigkeit und ihrem Beitrag dazu auseinandersetzen wollen. Der Kurs ist in Buchform oder als kurze Online-Version erhältlich.
Intrinsische Motivation
«Es gibt Menschen, die helfen einfach, wenn jemand in Not ist.» Dieser Impuls sei intrinsisch, in ihnen angelegt. Der theologische Zugang zeige, wie Gott Mensch werde, wie er in die Welt komme. Lukas Gerber zitiert aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 25: «Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen, durstig, ihr gabt mir zu trinken, ich war nackt, ihr habt mich bekleidet, ich war im Gefängnis, ihr habt mich besucht», und erklärt: «Jesus selbst war in diesen Armen, Verwundeten. Wenn wir solchen Menschen begegnen, begegnen wir Gott selbst!» Dies verändere die Wahrnehmung. Rhetorisch fragt er: «Welcher Mensch, Kirche oder Kleingruppe möchte nicht Gott persönlich begegnen?»
Shalom
Der hebräische Gruss Shalom bedeutet Frieden. Er sei ein Grusswort und stelle gleichzeitig die Frage: Ist die Beziehung zwischen uns in Ordnung, herrscht da Frieden? «Wir westlich geprägten Menschen verstehen Gerechtigkeit oder Frieden oft sehr juristisch», hält Gerber fest. In östlichen Ländern sei das anders. So sei auch die Bibel ein Buch, das die Beziehung zwischen Mensch und Gott beschreibe, erklärt der Theologe. Diese gestalte sich oft schwierig, Menschen neigten dazu, wieder zu zerstören, was sie aufgebaut hätten. Ihre Ellbogenmentalität schade anderen, dränge sie aus der Gemeinschaft an den Rand. «Gott geht an die Ränder und lädt die Menschen dort ein, wieder in die Gesellschaft zurückzukehren.» Als Beispiel nennt er Aussätzige, die keinen Zugang zum Alltagsleben hatten. «Jesus heilte sie und ermöglichte ihnen so, wieder dazuzugehören.» Er habe sich auch an Zöllner gewandt, die oft reich, aber verachtet und einsam waren. Sie habe Jesus ebenfalls zurückgeholt ins Shalom.
Exodus
Gottes Handeln hat immer auch mit Befreiung zu tun. Gerber nennt als Beispiel die Geschichte des Exodus. «Gott führte sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit. Er stand aber auch hinter seinen Leuten, um sie zu schützen.»
Biblische Texte hätten oft einen tiefen Bezug zur Realität. Auch im 21. Jahrhundert sei die Befreiungstheologie sehr aktuell. Wenn er an die himmelschreiende Situation in Afghanistan denke, sehe er keine menschlichen Möglichkeiten mehr. Es bleibe einzig die Hoffnung auf Gottes Eingreifen. Auch in sich selbst seien Menschen gefangen und erkennen das oft nicht. Sie seien ebenfalls auf das Geschenk der Befreiung angewiesen, denn selbst gelinge es ihnen kaum.
Tun, was man kann
Die westliche Gesellschaft ist auf messbare Fakten fokussiert, hält Lukas Gerber fest. Gemeinden zählten ihre Mitglieder, wie viele Menschen ihre Gottesdienste besuchten, wie viele sich im letzten Jahr bekehrt haben, dank welchen Missionsgesellschaften wie viele Projekte am Laufen sind – und übersehen dabei den Notleidenden vor ihren Augen. Dazu brauche es Achtsamkeit. Es brauche manchmal nicht viel, um dessen Bedrängnis zu lindern. Und es sei nicht immer schwierig. «Niemand braucht Markenschuhe – es gibt viele Fair-trade-Produkte, die man stattdessen kaufen könnte.» Auch die Spende in den Hut, das Sandwich für eine hungrige Person sei nicht weltbewegend. Gerber: «Was ich tun kann, dass mache ich.»
Tanzschule Kirche
«Kirche ist ein Ort, wo gemeinsam gelernt wird», hält der Theologe Bernhard Ott fest. Er ist einer der Redner, der per Video zu den Teilnehmenden des Just People-Kurses spricht. Ott vergleicht die Lerneinheiten mit einem Tanzkurs. Der Mensch solle in Gottes Rhythmus hineinfinden: «Auch wenn man einander mal auf die Füsse tritt, bleibt man dran, die Schritte gemeinsam einzuüben.» In einer Kirche könne man die Partner nicht wählen, sie seien einfach da. Dennoch könne man mit ihnen den Tanz einüben, seinen Charakter schleifen. Und so gemeinsam bereits eine Ahnung bekommen von der himmlischen Musik, nach der einst alle tanzen werden.
Eine andere Welt ist möglich
«Diktatoren haben oft Angst vor Religionen und Christen», weiss Lukas Gerber. «Sie zeigen auf: «Du bist nicht der Höchste, über dir steht Gott.» Davon fühlten sich Machtmenschen bedroht. Doch jedes Anbetungslied drücke dies aus und sei daher ein politisches Statement. In Demokratien sei das weniger sichtbar, in Diktaturen schon. Dass Menschen hoffen können, sei einzigartig. Lukas Gerber zitiert den Theologen Jürgen Moltmann: «Hoffnung ist religiös – es kommt etwas auf uns zu!». Die Menschheit gehe nicht auf den Tod zu, sondern Gott komme auf den Menschen zu, er werde die Welt erneuern.
«Wenn ich mich selbst verändere, verändert sich nicht die Welt, aber doch etwas», hält der Theologe fest. Wir alle sehnten uns nach erfülltem Leben und merkten oft nicht, dass wir in uns gefangen seien. «Wir suchen Anerkennung, zum Beispiel durch Leistung, und zerstören uns dabei selbst.» Der Kurs ermutige, im Austausch zu bleiben, gemeinsam zu überlegen, wo man ansetzen könne, die Welt zum Guten zu verändern. Es brauche Impulse von aussen, es brauche Achtsamkeit, Aktion und Kontemplation. «Wir brauchen einander – hören wir hin: Was brauchen wir, was brauchen andere? Wo sind wir Teil des Problems, wo können wir zur Lösung beitragen?»
Sehen Sie sich den Talk mit Lukas Gerber an:
Zur Website:
Just People-Kurs
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