Die Alternative zum Individualismus-Hype
Der Glaube wird im säkularisierten Westen nicht mehr durch Tradition weitergegeben. Darunter leiden die Kirchen, deren Mitgliederzahl ständig abnimmt. Eine wachsende christliche Szene bilden jedoch die unterschiedlichen Lebens- und Hausgemeinschaften. Dies zeigte sich auch an der Teilnehmerzahl von rund 230 am Gemeinschaftstag 2023. Er vereinigte Menschen aus sehr unterschiedlich geprägten Gemeinschaften, die aber vieles gemeinsam haben.
Antwort auf die Säkularisierung
Der Tag setzte verschiedene Akzente, die einerseits für die Kirchen ermutigend sind, sie aber auch zum Nachdenken anregen müssen. So betonte Pfarrer Dr. Walter Dürr, Leiter des Instituts für Glaube und Gesellschaft an der Uni Fribourg: «Die Glaubensvermittlung durch Tradition funktioniert nicht mehr!» Dennoch sei der Glaube nicht in der Krise, sondern es brauche neue Formen der Glaubensvermittlung. Es gelte, das christliche Leben so zu leben, dass es von den säkularisierten Menschen wahrgenommen werde: als alternatives Lebensmodell. Als eine Alternative zum exzessiven Individualismus in einer gemeinschaftsunfreundlichen Zeit.
Wie das konkret aussehen kann, beschrieb Christa Gasser, die zusammen mit ihrem Mann Wilf seit Jahrzehnten Erfahrungen im gemeinschaftlichen Leben gesammelt hat, aktuell im House of Peace in Wabern. Gemeinschaft sei für sie der bewusst gewählte Weg, Nachfolge Christi zu leben, so Gasser. Ein Grundsatzentscheid, der sich aber immer wieder den Umständen anpassen müsse. Und der immer wieder Herausforderungen mit sich bringe. Sie zitierte den Autor Jean Vanier mit den Worten: «Solange wir allein waren, konnten wir glauben, alle Menschen zu lieben. Sobald wir aber mit andern zusammen leben, bemerken wir, wie unfähig wir sind zu lieben.»
Heilende Gemeinschaft
Denn gemeinschaftlich unterwegs zu sein bedeute immer wieder, sich auch zu reiben, so Christa Gasser. Aber: «Dort, wo wir zusammen unterwegs sein können, entsteht heilende Gemeinschaft. Da wird Reich Gottes sichtbar.» Wer jedoch in Gemeinschaft lebt, ist nicht allein. Das zieht auch Menschen an, die sich vor Einsamkeit zum Beispiel im Alter fürchten. Doch dazu gibt es auch ein Aber, wofür Christa Gasser aus dem Büchlein von Dietrich Bonhoeffer «Gemeinsames Leben» zitierte: «Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft ... wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.» Gemeinschaft erfordere viel Flexibilität und die Bereitschaft, sich der Gemeinschaft auch auszusetzen. Aber sie habe auch ein Glückspotential, wie Jean Vanier festgehalten habe: «Man tritt in eine Gemeinschaft ein, um glücklich zu sein. Man bleibt, um andere glücklich zu machen.
Chancen und Stolpersteine
Stephan Maag, Pastor, Leiter der Hausgemeinschaft Sonnenhalde in Rüti bei Riggisberg und Schafzüchter, bezeichnete das gemeinschaftliche Leben als Antwort auf die Not unserer Zeit, in der es an Gemeinschaft mangle. Die Kirche sei an sich eine Beziehungsgemeinschaft. Denn Gott sei ein Gott der Gemeinschaft. Gemeinschaftliches Leben könne daher ein Lazarett für die Zerbrochenen sein. Maag nannte aber auch die Stolpersteine für Gemeinschaften: Falsche Frömmigkeit, das Ego und überhöhte Erwartungen an die Anderen. Als Schlüssel der Gemeinschaft nannte er die persönliche Gottes- und Jesusbeziehung, Flexibilität, Geduld und die Bereitschaft, auch «Dreck zu fressen».
Im Podium unter der Moderation von Pfarrer Heiner Schubert, Leiter der Kommunität Don Camillo in Montmirail, teilten Leitende ganz unterschiedlicher Gemeinschaften ihre Erfahrungen. So Julia Neuenschwander vom Mehrgenerationenwohnen «erfahrbar» in Unterengstringen, Pfarrerin Schwester Delia Klingler der Kommunität Diakonissenhaus Riehen, Andreas Leuzinger von der Gemeinschaft Fischerhus/Läbeshus Riehen, Sandro Putzi von der «Dihei Community» in Zürich sowie Pfarrer Ruedi Beck aus der Pfarrei St. Leodegar in Luzern und Co-Leiter des Reuss-Instituts.
Gemeinschaft und Gemeinwohl
Schliesslich bestätigte Dr. Markus Thürig, Generalvikar des Bistums Basel, die Erfahrungen seiner evangelischen Schwestern und Brüder. Das Leben in Gemeinschaft könne das gesellschaftliche Leben mitprägen, so seine Überzeugung. Denn es bilde einen Kontrapunkt zu den Megatrends Individualisierung und Ökonomisierung sowie zur verbreiteten Zukunftsangst. Und es bringe Lebenssinn und Lebensfreude. Gemeinsames Leben sei Ausdruck einer Mentalität, die Gemeinschaft mit Gemeinwohl verbinde.
Initiiert und geleitet wurde der Gemeinschaftstag von einem Team unter der Leitung von Pfarrer Thomas und Irene Widmer-Huber von der Fachstelle Gemeinschaft der «Offenen Tür» in Riehen. Die Mitleitenden im Gemeinschaftshaus Moosrain haben sich an der Tagung auch mit Referatsbeiträgen eingebracht.
Zu den Websiten: Offene Tür / Gemeinschaftstag / Fachstelle
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