«Gemeinde Gottes von der Gewalt nicht ausgelöscht»

Blick auf Aleppo
Islamisten erobern die syrische Millionenstadt Aleppo und Zehntausende von Christen sind in ihr gefangen. Wie konnte das passieren und was bedeutet das für die Christen? Ben S., der die Projekte der HMK Schweiz koordiniert, gibt Einblicke.

Ben (Name aus Sicherheitsgründen geändert), Aleppo ist in unseren Nachrichten. Was ist dort passiert?
Ben S.: Ein gewaltiger Umschwung, den so niemand hat kommen sehen: Mitte letzter Woche (Woche vom 29. November) haben islamistische Rebellengruppen eine Offensive in Nordwestsyrien gestartet. Blitzartig haben sie ein Gebiet erobert, das fast der Grösse des bisher von ihnen kontrollierten Territoriums entspricht. Seit dem Wochenende vom 1. Dezember wird die 2-Millionen-Stadt Aleppo von islamistischen Rebellengruppen kontrolliert. Aleppo ist eine bedeutende Stadt in Syrien, die vor dem Krieg ein Handelszentrum für den ganzen Nahen Osten war und auch heute noch von grosser regionaler Bedeutung ist.

Was bedeutet das für die Bewohner von Aleppo?
Die Islamisten streben eine Herrschaft der Scharia an und leben Gewalt exzessiv aus. Wer ihnen nicht passt, der wird ausgeschaltet. Die Einwohner von Aleppo, besonders Minderheiten wie Christen, Kurden und Schiiten, haben versucht zu fliehen. Hunderttausende waren tagelang ohne Wasser und Nahrung bei Temperaturen um die null Grad in der Nacht unterwegs. Eigentlich war ihnen freies Geleit zugesagt, aber dann doch nicht gewährt worden. Allerdings sind auch viele noch in der Stadt eingekesselt und von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Vor allem in kurdischen und christlichen Quartieren fehlt es an Trinkwasser und Brot. Die Läden sind leergekauft und Bäckereien erhalten kein Mehl mehr. Diejenigen, die noch in der Stadt sind, sind gefangen. Darüber hinaus wird die Stadt immer wieder bombardiert und es gibt Scharfschützen.

Wie viele Christen gibt es in Aleppo?
Ja, die gibt es – und nicht wenige. Aleppo gilt als die Stadt mit den meisten christlichen Denominationen in Syrien. Dazu kommen viele Konvertiten, also ehemalige Muslime, die nun an Jesus glauben. Christen haben immer eine grosse Rolle in der Geschichte der Stadt gespielt. So galt Aleppo als sicherer Ort für die christlichen Armenier nach den Massakern an ihnen Anfang des 20. Jahrhunderts. Einige der syrischen Kirchenverbände haben sogar ihren Hauptsitz in Aleppo. Vor dem Bürgerkrieg lebten in Aleppo 200'000 bis 250'000 Christen. Doch während dem Bürgerkrieg sank die Zahl immens und so lebten im vergangenen Jahr nur noch 50'000 Christen in der Stadt. Wie viele es jetzt noch sind, ist ungewiss, weil viele von ihnen geflohen sind.

Was sind die Aussichten der Christen unter der Herrschaft der Rebellen?
Ihre Aussichten sind alles andere als gut, weshalb sie derzeit in grosser Angst sind. Wenn man sich anschaut, wie die islamistischen Rebellen in den Gebieten geherrscht haben, die sie bis jetzt kontrolliert haben, zeichnet sich ein schreckliches Bild. Das Leben dort war von der Scharia geprägt. Christen wurden als Bürger zweiter Klasse behandelt: Gottesdienste wurden ihnen verweigert, sie wurden enteignet, humanitäre Nothilfe wurde ihnen nicht gewährt und sie mussten hohe Kopfsteuern zahlen. Darüber hinaus kam es vermehrt zu Entführungen oder gar Ermordungen von Christen. Sie waren der Willkür ausgesetzt; zum Beispiel wurde ihr Hab und Gut beschlagnahmt. Konvertiten traf es besonders hart – für sie sieht die Scharia als Verräter die Todesstrafe vor. Derzeit herrscht grosse Ungewissheit und Angst bei den Christen von Aleppo und dessen Umland. Keiner weiss, was kommen wird. Verbunden mit dem Mangel an Lebensmitteln zermürbt das die Menschen.

Ihr als HMK Schweiz arbeitet ja schon lange in vor Ort. Wie geht es euren lokalen Mitarbeitenden?
Unsere Mitarbeiter leiden jetzt besonders. Viele mussten sofort ihr Hab und Gut zurücklassen, und das nicht zum ersten Mal. Sie haben sich vor Ort schon seit Jahren für Notleidende eingesetzt. Sie verteilen regelmässig Essen an Vertriebene. Sie haben ihren Glauben nicht versteckt, und das könnte ihnen nun unter den Islamisten zum Verhängnis werden. Einige sind geflohen, andere sind vor Ort. Sie sind für viele Menschen da und helfen, wo sie können. Durch ihren Einsatz im Namen der Kirche sind sie besonders in Gefahr. Auch sie leben in der Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird: Wird es sein wie dort, wo die Rebellen bis jetzt geherrscht haben? Warum muss dies gerade jetzt passieren?

Wie wird es weitergehen in Aleppo, was ist deine Einschätzung?
Es ist so vieles möglich. Vor wenigen Tagen hätte es keiner für realistisch gehalten, dass die Islamisten eine solche Offensive wagen und so schnell so grosse Teile des Landes einnehmen können. Die menschlichen Aussichten sind eher düster. Die Islamisten sind weit vorgerückt und Aleppo ist abgeschnitten. Was passiert mit denen, die noch herauswollen? Die Islamisten versuchen, das Bild abzugeben, dass sie gut zu ihnen schauen werden. Doch es herrscht grosse Angst und Unsicherheit unter den Einwohnern Aleppos darüber, wie die Herrschaft der Islamisten sich entwickeln wird.

Die Zeichen für das gesamte Land stehen auf Sturm: Man befürchtet, dass der Bürgerkrieg in Syrien in seiner Brutalität wieder aufflammt. In anderen Landesteilen sind Unruhen und Gewalt ausgebrochen und der Vormarsch der Islamistengruppen geht an verschiedenen Orten weiter. Aber wir glauben an die Kraft des Gebets. Wir wissen, dass es Gott möglich ist, unseren Geschwistern und allen Menschen in Nordwest-Syrien Ruhe und Frieden zu geben.

Wie geht es dir persönlich mit diesen Nachrichten?
Sie treffen mich ins Herz – immerhin begleite ich das Land nun schon einige Jahre und bekomme mit, wie es den Menschen dort geht. In Syrien herrscht unbeschreibliche Not: Der über ein Jahrzehnt andauernde Bürgerkrieg, Hunderttausende Tote und Millionen von Vertriebenen, grosser Mangel durch Sanktionen, das schreckliche Erdbeben Anfang 2023 und vieles mehr haben dazu beigetragen. Es gibt so vieles, was die Menschen dort aushalten müssen.

Nun kommt die Eroberung der bedeutungsvollen Stadt Aleppo durch die Islamisten dazu. Damit hat niemand gerechnet. Es ist ein weiterer Schock. Diesmal ist die christliche Gemeinde stark bedroht. Wir dürfen in all dem jedoch wissen, dass Jesus darübersteht. Er steht unseren Geschwistern bei, die noch in der Stadt sind, und hilft denen, die auf der Flucht sind. Mich ermutigt, was er zu Petrus sagte: ‹Ich werde meine Gemeinde bauen und die Pforten der Hölle können sie nicht überwältigen.› Auch wenn jetzt überall in Nordsyrien radikale ‹Allahu-Akbar›-Rufe ertönen, die Gemeinde Gottes wird von der Gewalt, Zerstörung und Zerstreuung nicht ausgelöscht.

Wie können wir für die Christen und die Menschen in Aleppo beten?
Bitte beten Sie für die Christen in Syrien um Schutz, wenn sie sich auf der Flucht befinden oder in umkämpften und eingenommenen Städten sind. Beten Sie für Weisheit in den Entscheidungen, die sie ständig zu treffen haben. Beten Sie ausserdem, dass Gottes Kinder von seinem Frieden und seiner Kraft eingehüllt und erfüllt werden. Bitte beten Sie dafür, dass Gott die Kämpfe stoppt und sich über den Menschen in Syrien erbarmt.  

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Autor: Melanie Grün
Quelle: HMK Schweiz

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