Juden in England und Frankreich vor schwerer Zukunft
Juden in Grossbritannien fühlen sich bedroht. Die Historikerin und jüdische Intellektuelle Irene Lancaster beschreibt, wie Jahrhunderte der Wertschätzung jüdischen Lebens einer wachsenden Welle von Antisemitismus und Ignoranz weichen – sie wirft sogar die schreckliche Frage auf, ob Juden in Europa überhaupt noch eine Zukunft haben.
Heute, so Irene Lancaster, scheine sich das europäische Klima in eine Richtung zu bewegen, die der Vorkriegszeit der 1930er Jahre beängstigend nahe komme. Denn in Grossbritannien schwindet das Sicherheitsgefühl für jüdische Menschen.
Gibt es noch Platz für Juden?
Irene Lancaster fügt hinzu: «Die niederländischen Juden, von denen ein erschreckend hoher Prozentsatz während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurde, erleben derzeit neue antisemitische Ausbrüche. Der historische Zyklus von Verfolgung und Diffamierung scheint sich auch in Amsterdam zu wiederholen.»
In ihrer Analyse kommt Lancaster zu dem Schluss, dass Juden in Europa und im Vereinigten Königreich vor der schweren Entscheidung stehen, ihre Heimat zu verlassen. «Angesichts eines zunehmend feindseligen Umfelds, antisemitischer Ausschreitungen und der Ignoranz gegenüber jüdischen Anliegen scheint das Exil wieder einmal der letzte Ausweg zu sein. Die jüdischen Gemeinden in Europa stehen vor der Frage, ob es für sie noch einen Platz auf diesem Kontinent gibt.» Sie befürchtet, dass sich der Kreislauf von Ausgrenzung und Ablehnung wiederholen könnte. «Vielleicht ist es wieder an der Zeit, dass das jüdische Volk die Zeichen der Zeit erkennt und den Kontinent verlässt – bevor es zu spät ist.»
An Universität geschnitten
«Ein Teil der eingewanderten Bevölkerung ist ein Reservoir des antisemitischen Hasses, das eines Tages explodieren wird», sagt auch der französisch-jüdische Historiker Georges Bensoussan. Seine Familie musste eins aus Marokko flüchten. Die extreme Rechte hält er schon lange nicht mehr für die grösste Gefahr in Frankreich, erlärt er gegenüber der «NZZ».
Er verweist auf die politische Korrektheit: «Man verurteilt den Antisemitismus, aber man benennt nicht die Antisemiten.» Der marokkanisch-französische Historiker warnt seit Jahren davor, den islamischen und arabischen Antisemitismus zu unterschätzen.
Und damit ist er bei weitem nicht alleine. So erlebte beispielsweise die Pariser Literatur-Studentin Lisa Hazan, dass Kollegen Listen mit den Namen jüdischer Studenten anlegten und an der Uni verbreiteten. Die «Jüdische Allgemeine» berichtet: «Jüdische Studenten wurden aus linken Aktionsgruppen ausgeschlossen, in denen sie sich für mehr soziale Gerechtigkeit engagiert hatten – und auch für Frieden in Nahost und die Rechte der Palästinenser. Andere Gruppen-Mitglieder sollten sie schneiden, so die Anweisung militanter Aktivisten.»
Ein neuer Exodus?
Die «Jüdische Allgemeine» gewährt einen tiefen Einblick in die immer unsicherer werdende Lage für Juden in Frankreich und nennt beispielsweise den Brandanschlag auf die Synagoge in der nordfranzösischen Hafenstadt Rouen, die rund 200 jüdische Familien zählt. Sie können sich nicht mehr zum Gottesdienst versammeln; das Feuer und die Hitze haben den grossen Saal verwüstet.
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind 800 französische Juden nach Israel ausgewandert und weitere 6440 Personen haben ein entsprechendes Dossier eröffnet. Weiter wurden im ersten Halbjahr 2024 bereits 887 antisemitische Übergriffe gemeldet.
Neu ist die Abwanderung von Juden, die sich in Europa nicht mehr sicher fühlen, nicht. Livenet hat darüber bereits mehrfach berichtet, etwa hier am Beispiel Frankreichs und hier.
«Keine Zukunft mehr für Juden in Frankreich»
Moshe Sebbag ist Rabbi in der Grossen Synagoge in Paris. Gegenüber der «Jerusalem Post» fand er in diesem Sommer klare Worte: «Es gibt keine Zukunft für die Juden in Frankreich.» Unter anderem hielt er fest: «Ich sage jedem jungen Menschen, er soll nach Israel oder in ein sichereres Land gehen.» Die muslimische Massen-Einwanderung sowie eine gescheiterte Integration hätten Frankreich gespalten. Dazu kommt, dass sich die militante Linke teils mit Islamisten verbündet.
Auch in Deutschland hat der Juden-Hass namentlich seit dem Kriegsausbruch erheblich zugenommen, wie die «Tagesschau» bereits nach wenigen Monaten feststellte.
Erst letzte Woche wurde im deutschen Bundestag die Resolution «Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken» angenommen worden; dies als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus im Land.
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