«Auf welcher Seite sind Sie?»
«Auf welcher Seite sind Sie?» Das ist eine Frage, die mir als Religionslehrerin und interkultureller Koordinatorin nach dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 von unseren Schülerinnen und Schülern an der Stadtteilschule Öjendorf oft gestellt wird. Wir haben einen Migrationsanteil von über 75 Prozent. Würde ich antworten: «Ich bin für Israel!», würden mir aus Protest jeden Tag die Worte «Free Palestine!» entgegengeschmettert. Und ich hätte jegliche Chance auf ein Gespräch auf Augenhöhe verwirkt. Würde ich aber sagen, dass ich auf der Seite der Hamas stehe, würde ich lügen. Also antworte ich voller Überzeugung: «Ich bin für die Menschen und gegen Gewalt!»
Eine syrische Geflüchtete erklärt mir, dass sie gern auf eine «Free Palestine»-Demonstration gehen würde, weil sie es den Palästinensern gönnen würde, endlich ein Land zu haben. Im gleichen Atemzug wünscht sie genau das auch den Israelis. Ich bin überrascht. Wir kommen ins Gespräch, in dem ich ihr auch meine Betroffenheit über die vielen Todesopfer auf palästinensischer Seite vermitteln kann. Um das harte Eingreifen Israels ein bisschen erklären zu können, gehe ich in meinem Religionskurs, zu dem sie gehört, intensiver auf geschichtliche Hintergründe zum Nahostkonflikt ein. Als ich den Raum verlasse, bleiben nachdenkliche Schüler zurück.
Das grosse Dilemma
Leider verlaufen die Gespräche nicht immer so offen. Ein Sechstklässler kommt mir einige Tage später mit der Forderung für ein freies Palästina entgegen. Als ich ihn frage, ob er das gut finde, was die Hamas gemacht habe, schaut er mich gross an. «Was meinen Sie mit Hamas? Wer ist das?» Als ich ihm kurz erkläre, dass es sich dabei um eine Terrororganisation handele, die brutal Menschen in Israel abgeschlachtet habe, schaut er mich verwirrt an. Er hat noch nie von der Hamas gehört. Sein Blick suggeriert mir, dass er mir nicht glaubt und auch nicht zwischen den Palästinensern und der Hamas unterscheiden kann. Ein Freund von ihm, der mit halbem Ohr zugehört hat, ruft: «Die Juden werden schon sehen, wie die Rache schmeckt.» Da wird mir das grosse Dilemma des jüdischen Volkes wieder bewusst.
Israel ist umgeben von vielen arabischen, muslimisch geprägten Ländern. Es liegt nahe, dass die Nachbarn sich mit dem palästinensischen Volk solidarisieren und eher ihr Leid mitfühlen. Es sind zahlenmässig aber viel mehr als die Israelis. Nachrichten, die aus dem Gazastreifen in die Welt gesandt werden, kommen meist von der Hamas, weil es kaum mehr neutrale Berichterstatter vor Ort gibt. Die Bilder von Bomben, die auf Krankenhäuser abgeworfen wurden, verbreiten sich in Windeseile in den sozialen Netzwerken, werden oft nicht auf Echtheit überprüft und brennen sich in den Köpfen ein. Nie berichtet wird dagegen, dass Israel ein Rechtsstaat ist und die Soldaten, die Fehler machen, sich vor Gericht verantworten müssen. Israel verteidigt sich nach einer brutalen Geiselnahme unter Zivilisten und einer Abschlachtung von über 1'300 Menschen.
Friedenskonferenz
So kommen einige Tage später unsere Schulsprecher in der Pause auf mich zu und halten mir ein Bild vom zerstörten Krankenhaus in Gaza-Stadt unter die Nase. «Frau Böhmann, was sagen Sie dazu? Was denken sich die Israelis eigentlich dabei?» Und ich sehe mich herausgefordert, zwischen Tür und Angel zu prüfen, welche Fehler das israelische Militär vielleicht gemacht hat, welche Quelle meine Schüler haben, was Propaganda der Hamas ist und wie ich den Schülern eine fragende Haltung vermittele, die beiden Seiten die Möglichkeit gibt, zu Wort zu kommen.
Im November und Dezember 2023 ringe ich um Worte und Methoden, wie ich meinen Schülern auf deutliche, aber einfühlsame Weise verständlich machen kann, dass ihre Medienrecherche einseitig ist und die sozialen Medien Algorithmen verwenden. In diesen Wochen fordern mich auch Medienanfragen heraus, ob wir als Schule bereit wären, darüber zu sprechen, wie wir den Nahostkonflikt thematisieren. Dabei lerne ich einfühlsame Medienleute vom NDR und heute journal kennen, die erschüttert darüber sind, dass ihnen von unseren Schülern Einseitigkeit vorgeworfen wird: «Sie sind doch alle pro Israel.»
Als das heute journal da ist, stelle ich mit meiner 10. Klasse eine Friedenskonferenz nach. Je drei bis vier Schüler sind in einer Gruppe und bereiten einen Friedensvorschlag im Nahostkonflikt für ein Land oder eine Gruppe vor. Da sind die USA genauso vertreten wie die PLO, die Hamas, Deutschland, Israel, der Iran… Jede Gruppe entsendet einen Vertreter oder eine Vertreterin an den Verhandlungstisch. Als D. als Vertreter der Hamas an der Reihe ist, sagt er deutlich: «Wir wollen Israel auslöschen. Sie haben kein Existenzrecht. Frieden kehrt nur ein, wenn Israel ausradiert ist.» Völlig betroffen kommt dieser Schüler nach der Stunde zu mir und fragt mich, ob er das so richtig gesagt habe und es tatsächlich so sei. Er hat etwas Entscheidendes verstanden.
Begegnung auf Augenhöhe
Seit 2017 veranstalte ich mit dem Ebenezer Hilfsfonds Deutschland e. V. Jugendaustauschprogramme nach Israel. Auslöser war eine Äusserung eines geflüchteten Schülers in meinem Religionsunterricht, der mir androhte: «Frau Böhmann, wenn Sie das Judentum unterrichten, dann gehe ich.» Mir wurde damals bewusst: Wenn sich am Antisemitismus einerseits und den Vorurteilen der Israelis gegenüber uns Deutschen andererseits etwas verändern soll, braucht es Begegnung. In den Begegnungsreisen hat sich genau das bewiesen. Als Ebenezer meine Freundin und mich im Januar 2024 für eine Woche nach Israel entsandte, um mit Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen, konnten wir den Kontakt zu einem Pre-Army-Kurs herstellen. In diesem sechsmonatigen Kurs kommen jüdische Jugendliche aus aller Welt in Israel zusammen, um mehr über Land und Leute zu erfahren. Danach startet für einige der Militärdienst, andere kehren in ihre Ursprungsländer zurück.
Dieser Kurs hat sich bereit erklärt, an einem Zoom-Meeting mit Schülerinnen und Schülern aus unserer Schule teilzunehmen. Die waren überrascht, dass die Jugendlichen des Kurses auch aus unterschiedlichen Ländern kamen. Es fand ein gegenseitiges Kennenlernen und eine offene Fragerunde statt. Am Ende war für alle klar: Das müssen wir wiederholen! Die Offenheit und das Interesse am anderen haben mich begeistert. Ein muslimisches Mädchen meinte im Anschluss zu mir: «Ich gehe jetzt nach Hause und spreche mit meiner Tante. Sie hat so viele Fragen zum Nahostkonflikt. Ich bringe ihre Fragen zum nächsten Meeting mit, dann findet sie vielleicht auch endlich Antworten darauf.»
Deshalb bin ich überzeugt: Begegnung auf Augenhöhe kann Brücken zum anderen bauen, weil plötzlich der andere auch als Mensch wahrgenommen wird.