Gemeinde-Alltag im Kriegsgebiet

Ukrainische Farben auf ein Papier gezeichnet
Andrej ist Pastor in Dnipro, Yuri in Kramatorsk. Zwei Pastoren aus der Ukraine berichten, wie ihr Leben im Kriegsalltag aussieht und sich Menschen trotz des Krieges – oder gerade deswegen – Gott zuwenden.

«Die Russen sind unsere Feinde, aber ich bete für sie»

Andrej berichtet: «Ich bin Pastor einer Ortsgemeinde in Dnipro und leite einen kleinen Verband von Freikirchen in der Ukraine. Sieben Gemeinden gehören dazu. Die meisten Menschen in russischsprachigen Ländern folgen der Erzählung, dass man orthodox sein müsste, um ein echter Slawe zu sein. Deswegen sehen viele Menschen Protestanten als Sektierer. Trotzdem gibt es in der Ukraine viele evangelikale Gemeinden: Baptisten, Pfingstler, Charismatiker. Meine Gemeinde, die Partner des «Bundes Freier evangelischer Gemeinden» in Deutschland ist, ist ein kleiner Teil davon. Ich predige fast jeden Tag, wir treffen uns mit zwei Kleingruppen am Mittwoch und Donnerstag.

Man gewöhnt sich an den konstanten Druck des Krieges. Ich kann mir manchmal gar nicht vorstellen, dass er irgendwann enden wird und wir wieder so leben können wie vorher. Vor ein paar Wochen stand meine Stadt Dnipro nachts unter schwerem Beschuss. Alle 20 Minuten schlug ein Geschoss ein. Beängstigend.

Ja, wir beten dafür, dass Gott uns den Sieg schenkt und der Krieg aus der Ukraine verschwindet – mit so wenigen Verlusten an Menschenleben wie irgend möglich, sowohl auf unserer als auch auf Seiten Russlands. Wir haben eine lange Liste von Soldaten aus dem Umfeld der Gemeinde, für die wir beten.

Eigentlich tendieren Evangelikale zum Pazifismus, vor allem die Mennoniten. Doch der Krieg hat die Evangelikalen herausgefordert, ihre Haltung zu überdenken. Ich bin kein Pazifist. Und ich habe auch noch nie gehört, dass jemand seine Geschwister dafür kritisiert hätte, Kriegsdienst zu leisten

Meine erste Botschaft an die Gemeinde nach Kriegsbeginn war: Unser Verteidigungskampf ist ein gerechter Krieg. Was Russland tut, ist böse. Und wir müssen uns diesem Bösen widersetzen. Mit Gewehren. Mit Gebeten. Mit allem, was wir tun können.

Mir fällt es nicht schwer, für sie zu beten, auch wenn sie jetzt unsere Feinde sind. Aber ich bin enttäuscht von ihnen. Weil es so wirkt, als kehrten sie zu denselben kommunistischen Dämonen zurück, von denen sie früher beeinflusst waren. Sie scheren sich nicht um Menschenleben. Die Regierung lügt unaufhörlich. Und das Volk schluckt diese Lügen. Das ist der totale Kollaps des angeblichen Ideals eines christlich-orthodoxen Russlands. Sie kennen Gott nicht. Das zeigt sich in der Art, wie sie Krieg führen, wie sie ihre Soldaten behandeln und was diese wiederum den Zivilisten antun: All diese Vergewaltigungen, der Diebstahl – mir fehlen die Worte.

Die russischen Evangelikalen trauen sich nicht, den Mund aufzumachen und diesen Krieg als ungerecht zu verurteilen. Sie haben Angst vor Putin und sind den ganzen Tag der Propaganda ausgesetzt. Es ist wie damals in der KGB-Ära. Widerlich.

Aber Gott schenkt Frieden im Herzen. Das mag sich komisch anhören von jemandem, der in einem Kriegsgebiet wohnt. Es ist ein Frieden, der über unser Verstehen hinausgeht. Der Friede, von dem Paulus schreibt: Im Glauben bleiben, in Jesus bleiben. Dann bestimmt dich nicht mehr die Angst. Diesen Frieden den Menschen zu zeigen, sehen wir als unsere Aufgabe.»

Es gibt nur eine Hoffnung

Yuri berichtet: «Was mir Hoffnung gibt? Es gibt nur eine Hoffnung: Christus.

Meine Gemeinde ist in Kramatorsk, 30 Kilometer von Bachmut entfernt, nahe an der Front. Du liegst zu Hause im Bett und hörst ein Geräusch: Eine Rakete? Ein Flugzeug? Wenn es wirklich eine Rakete ist, hast du ein paar Sekunden. Also keine Zeit, in einen Bunker zu flüchten.

Ich gehe gerne abends spazieren und beobachte die grossen Wohngebäude. Mit der Zeit wurden es immer weniger Fenster, hinter denen Licht brannte. Vor der Invasion lebten 250'000 Menschen hier, jetzt sind es noch an die 70'000, inklusive der Soldaten. Von 78 Gemeindemitgliedern sind nur vier geblieben, alle anderen sind geflohen. Ich habe sie auch zum Gehen ermutigt, weil es einfach nicht sicher ist. Mit der Gemeindearbeit haben wir einfach weitergemacht. Wobei meine Frau sagt, manchmal müsste ich eher «ich» sagen statt «wir». Aber ich will nicht stolz sein. Ich bin Teil eines Teams: Vater, Sohn, Heiliger Geist und dann noch der kleine Yurii. Ich fühle mich nicht allein.

Andrejs Gemeinde legt Wert auf Gemeinschaft

Wir haben bei der Evakuierung geholfen, haben Lebensmittel, Medizin und Kleidung verteilt. Und das Evangelium gepredigt. Die Menschen, denen wir geholfen haben, kamen irgendwann zu uns in den Gottesdienst, viele wurden Christen. Und es wurden immer mehr. Mittlerweile haben wir vier Gottesdienste pro Sonntag, insgesamt 920 bis 1'000 Menschen. Das ist eine Erweckung. Ein Wunder. Gott nutzt diesen Krieg, um Menschen zu sich zu führen

Manche von ihnen waren früher orthodoxe Christen, die aber vom Evangelium noch nie etwas gehört haben. Sie wissen nicht, warum Jesus gekommen ist, warum er am Kreuz gestorben ist, dass gute Taten niemanden retten. Sondern nur Jesus.

Man kann sich fragen, warum Gott all das Leid in meinem Land zulässt. Die Hauptbotschaft aus der Bibel dazu ist: Gott geht mit uns durch dieses Feuer. Er hat versprochen, bei uns zu sein. Er hat trotz allem die Kontrolle. Ich habe Gott gefragt: Warum muss ich durch dieses Chaos gehen? Er hat mir geantwortet: Ich will dich reinigen, Yurii. Johannes der Täufer hat gesagt, Jesus wird uns taufen mit dem Heiligen Geist und mit Feuer. Ich werde geläutert, damit die Menschen in mir immer mehr Jesus erkennen. Versteh mich nicht falsch, das ist kein Spass. Ich würde auch lieber ein unbescholtenes Leben in Kanada geniessen. Aber ich glaube, dass Gott mich hier gebrauchen will, weil es niemals eine grössere Gelegenheit gibt, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen, als jetzt.

Meine Frau ist mit meinen beiden Kindern mittlerweile in Kanada. Im Frühjahr habe ich sie zum ersten Mal seit einem Jahr gesehen. Wir haben uns umarmt, geküsst, wir haben geweint und Gott gebeten, dass er diesen Krieg beendet.»

Dieser Artikel erschien bei PRO Medienmagazin.

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Autor: Nicolai Franz
Quelle: PRO Medienmagazin

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