Über Sex predigen kann Folgen haben
Anfang März hat ICF-Pastor Leo Bigger mutigerweise über LGBT gepredigt (siehe Video unten). Mut hatte Bigger schon immer, die Dinge konkret anzusprechen und ohne grosse Hemmung medial zu transportieren. Diesmal kommt die Kritik nicht aus den säkularen Medien, sondern von Manuel Schmid, früherer Mitstreiter von Leo Bigger und ehemaliger ICF-Pastor, heute Leiter im RefLab, Zürich. Schmid kommentiert und kritisiert Bigger in einem Facebook-Post eloquent und ruft ihn sowie den ICF dazu auf, es besser zu machen.
Schmid schreibt seinen eigenen Worten gemäss «inzwischen aus der Distanz» zum ICF. Gemeint ist wohl seine theologische Distanz zur Glaubensart des ICF, die durch die theologische Entwicklung von Schmid entstanden ist. Seine Kritik an Biggers Predigt ist demzufolge keine «neutrale» Kritik, sondern zeigt seine eigenen theologischen Grundannahmen, wenn auch der eine oder andere Kritikpunkt vielleicht berechtigt ist.
Ich will hier nicht primär eine Kritik von Schmids Post oder von Biggers Predigt anbringen. Gernot Elsner hat auf Facebook bereits gute Rückfragen an Schmid gestellt, die lesenswert sind und den angeblich wissenschaftlichen Konsens hinterfragen, den Schmid postuliert. Mir machen vielmehr die vielen Pastoren und Pfarrpersonen Sorgen, welche Schmids Reaktion mitbekommen. Werden sie noch den Mut haben, ihre Gemeinden zu lehren über Sexualität und LGBT, wenn ihre Predigt zu einem derart direkten und grundlegenden Widerspruch führen kann, der (scheinbar) fundiert argumentiert ist?
Ich denke, wir haben hier ein typisches Beispiel, was passieren kann, wenn ein Pastor über Sexualität predigt. Pastoren und Gemeinden können mindestens vier Sachen lernen, auf die wir achten sollen beim Lehren zu diesen heissen Themen.
Bevor wir über etwas im Bereich LGBT predigen, sollten wir zuerst persönliche Nähe zu Menschen leben, die mit dieser Thematik leben.
Schmid meint, dass Bigger «Betroffene» nicht zu Wort kommen lässt. Der hermeneutische Prozess, den Schmid vermutlich dabei vor Augen hat, spricht «Betroffenen» Deutungshoheit zu. Dieser Grundansatz ist zu hinterfragen. Jedoch stimmt es, dass wir mit den Menschen, die mit einem von uns geplanten Predigtthema leben, an der Bibel und an den Aussagen arbeiten müssen.
Dabei gibt es keine Abkürzungen. Ich habe immer erst dann über diese heiklen Themen gepredigt, wenn ich länger mit Menschen unterwegs gewesen bin, die mit dem Thema leben. Ich habe ihnen jeweils die Predigt länger im Voraus geschickt und sie mit ihnen besprochen.
Was tun, wenn ich keine solche Nähe zu einer konkreten Person leben kann? Dann hilft es beispielsweise, eine gute Biografie zu lesen oder eine entsprechende Weiterbildung zu besuchen. An den Weiterbildungen, dich ich anbiete, versuche ich, wenn möglich Personen mitzunehmen, die vom Thema betroffen sind. Dort kann man sich dann mit ihnen ein bisschen unterhalten.
Was auch immer man über Sexualität und LGBT sagt: Es wird vermutlich innerhalb der Gemeinde und vielleicht öffentlich zu Gegenreaktionen kommen.
Dies ist normal und zu erwarten. Ich bin überrascht, dass es nach der Sonntagspredigt von Leo Bigger ganze vier Tage dauerte, bis jemand wie Manuel Schmid reagiert hat. Wenn nicht Bigger, sondern Schmid mit seiner Perspektive eine Predigt gehalten hätte, hätten andere reagiert. Es gibt keine Predigt zu diesen Themen, die allen passen wird, weil wir uns in grossen gesellschaftlichen Umbrüchen befinden. Dazu müssen Pastoren und Pfarrpersonen ein Ja finden. Es ist gut, wenn ihre eigene Leitung ihnen dabei den Rücken stärkt.
Unsere Predigt muss wenigstens versuchen, Differenziertheit zu zeigen.
Wir müssen als Lehrende so gut es geht die verschiedenen Ansichten darstellen, und zwar aus der jeweiligen Perspektive der präsentierten Ansichten formuliert. Danach dürfen wir selbstverständlich begründet erklären, weshalb wir unsere Meinung gewählt haben.
Diese Art von Differenziertheit in unsere Predigten einzubauen ist manchmal schwierig, denn wir können uns nie zu 100 Prozent in die Schuhe von anderen versetzen. Wir sollten es trotzdem versuchen, damit Menschen, die eine andere Einstellung haben, sich besser oder fairer repräsentiert fühlen. Dies ist ein hohes Ziel, das wir nicht immer erreichen. Manchmal schaffen es unsere Zuhörer aus Betroffenheit nicht, persönliche und emotionale Distanz zum Gehörten zu halten. Dies geht uns selbst ja auch manchmal so, wenn wir anderen zuhören. Mein Anliegen ist nicht, dass wir mit Differenziertheit allen Widerspruch aus der Welt schaffen, sondern dass unsere Art Respekt für Andersdenkende zeigt.
Damit wir diese Art von Differenziertheit in unsere Predigten integrieren können, müssen wir zuvor unsere eigene Ansicht reflektieren und die alternativen Ansichten so weit wie möglich aus deren Sicht kennenlernen. Bei den sexualethischen Themen unserer Zeit tut man das nicht schnell in der Woche vor der Predigt. Pastoren und Leiter unserer Zeit sind aufgerufen, sich kontinuierlich weiterzubilden in diesen Fragestellungen. Integraler Bestandteil davon ist – wie schon erwähnt – Reflektion mit vom Thema betroffenen Menschen.
Eine Predigt reicht nicht.
Es gibt aktuell keine einheitliche Plausibilität von Sexualität. Vor inzwischen zwölf Jahren fragte mich ein Hauptleiter in meiner Jugendarbeit: «Paul, warum ist es eigentlich wichtig, zu heiraten?» Früher haben Pastoren kulturelle Rückendeckung gehabt für das Heiraten. Sie konnten deshalb in ihrer Predigt in einigen wenigen Sätzen sagen: Es ist gut und richtig, zu heiraten.
Diese kulturelle Rückendeckung existiert nicht mehr. Aktuell ist es ein Gemischtwarenladen. Ein Anwärter für eine neue, breit abgestützte Plausibilität ist «Sexualität ist immer dann richtig und berechtigt, wenn es Konsens gibt unter Erwachsenen». Konsens unter Erwachsenen ist übrigens ein zutiefst biblischer und christlicher Wert, der unsere Kultur zum Glück geprägt hat. Aber macht dieser Wert, für sich alleine genommen, eine gute, menschenfreundliche, geschweige denn christliche Sexualethik? Was sind die Auswirkungen, wenn wir nur diesen einen Wert nehmen?
Mein Punkt: Eine Predigt reicht nicht, um die Plausibilität christlich-biblischer Sexualethik zu vermitteln. Es braucht in den nächsten Jahren regelmässig gut differenzierende Predigten, die im Gespräch mit vom Thema Betroffenen vorbereitet wurden. Diese Predigten werden jedoch keineswegs alle Kritik vermeiden können. Es braucht nebst Predigten auch gute Seminare und andere Formen, in denen wir diese Themen miteinander bewegen.
Ich möchte uns allen Mut machen, uns auf diese Weise der Herausforderung zu stellen, über Sexualität und LGBT-Fragestellungen zu predigen. Wir können es uns nicht leisten, Youtube, Facebook und Hollywood die Verantwortung zu überlassen, unsere Gemeinden in diesen Fragen zu lehren. Vielmehr darf es unsere Freude werden, die Wege Gottes, die er uns in der Bibel offenbart, zu entdecken, lieben zu lernen und auf gute Weise unseren Gemeinden zu vermitteln.
Paul Bruderer (50), verheiratet und dreifacher Vater, ist leitender Pastor der Chrischona-Gemeinde Frauenfeld. Am Theologischen Seminar St. Chrischona ist er Dozent für Dogmatik und am ISTL in Zürich Dozent für Ethik. Er bloggt auf Daniel Option.
Dieser Artikel erschien zuerst im Wochenmagazin IDEA Schweiz.
Sehen Sie sich die erwähnte Predigt von Leo Bigger an:
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