Wenn «normales» Beten nicht zu schaffen ist
«Jahrelang habe ich es nur geschafft, sonntags zur Kirche zu gehen und abends für meine Kinder zu beten – mehr war nicht drin», beschreibt Emily Hubbard ihr geistliches Leben. Dabei weiss die vierfache Mutter und erfolgreiche Dozentin, wie wichtig Zeiten der Stille sind. Sie hat es immer wieder gehört, dass Beten, Bibellesen und Studieren die Grundlage ihres geistlichen Wachstums sein sollten. Und Emily ist nicht zu faul dafür – sie hat nur ADHS. Was für sie bedeutet, dass sie in einem Vortrag hört, «ganz in Jesus zu ruhen», und gleichzeitig nur daran denken kann, ihre Spülmaschine gleich auszuräumen.
Ihr Ringen um Normalität im Glauben ist für Emily Hubbard so etwas wie der sprichwörtliche «Pfahl fürs Fleisch» des Apostels Paulus geworden. ADHS erinnert sie ständig daran, dass es zum Glück nicht auf ihre Leistung ankommt – auch nicht auf fromme Tätigkeiten wie eine standardisierte Stille Zeit mit Gott. Ihr ist es ein Trost geworden, dass sie nicht an Gott festhalten muss, sondern dass er sie hält. Dass die Kirchenjahre in wiederkehrenden Zyklen verlaufen, es also immer ein nächstes Mal gibt, wenn sie ein Ereignis verpasst. Und wenn sie anderen beim Beten zuhört, denkt sie inzwischen daran, dass sie Teil eines Glaubens ist, der grösser ist als sie.
ADHS ist keine «Kinderkrankheit»; die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist eine neuronale Besonderheit, die von leichten Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu schweren Einschränkungen im Leben reichen kann. Man geht davon aus, dass ungefähr sieben Prozent aller Menschen davon betroffen sind – also über 600'000 in der Schweiz und fast sechs Millionen in Deutschland. Das sind immerhin mehr, als Menschen in Hessen insgesamt leben. Trotz eines wachsenden Bewusstseins gilt ADHS immer noch für viele als Einbildung oder etwas, das man sich abtrainieren kann, während andere es ausschliesslich als Krankheit sehen, die bei Kindern mit Medikamenten behandelt werden sollte und bei Erwachsenen verschwiegen wird. Auf dieser Basis fragte die US-Journalistin Megan Fowler einige Christen mit ADHS, wie sie mit dem Thema Gebet umgehen.
Nicht länger eine Form erfüllen
José Bourget ist Kaplan der Andrews University in Michigan und weiss erst seit Kurzem, dass seine angebliche Vergesslichkeit mehr ist als eine persönliche Macke. Früher lachte er darüber, wenn er einen Flug verpasste, weil er seine Papiere nicht dabeihatte, oder er schämte sich dafür. Er versuchte sogar, solche Geschehen zu vergeistlichen: «Vielleicht wollte Gott nicht, dass ich fliege…» Seit seiner ADHS-Diagnose predigt er darüber, dass solch ein Gehirn nicht «kaputt» ist, dass Gottes Liebe gilt und Scham und Schuldgefühle hier keinen Platz haben.
«Eine neurodivergente Art, mit der Welt umzugehen, wird auf der Kanzel kaum angesprochen», erklärt er. Sich selbst hat er endlich die Erlaubnis gegeben, sich nicht unbedingt an bestimmte Praktiken des Bibellesens oder Gebets zu halten. Stattdessen hilft ihm ein fester zeitlicher Rahmen, den er inhaltlich frei gestalten kann. Nebenbei hilft er mit diesen Erkenntnissen auch den Studierenden, die unter ähnlichen Problemen leiden wie er.
Aus der Schwäche eine Stärke machen
Alex R. Hey hat nicht nur ADHS, er arbeitet auch als ADHS-Coach. Wenn Christen sich schämen, dass sie schon wieder bei so etwas Leichtem wie dem Gebet versagt haben, weil sie sich nicht konzentrieren konnten, meint er nur: «Wir dürfen anders beten.» Er erinnert sich selbst und sein Gegenüber daran, dass sie so sind, wie Gott sie geschaffen hat, das lässt ihn realistisch und demütig bleiben. Ihm persönlich hilft die klösterliche Praxis der «Lectio Divina» (mehr Infos hier) beim Bibellesen, Beten und Meditieren. Wenn er sich dabei zu stark auf einzelne Elemente fokussiert – auch das ist typisch für viele Menschen mit ADHS –, macht er aus der Schwäche eine Stärke. Einmal kam er beim Nachdenken über die Frau, die Jesus’ Füsse salbte und küsste, nicht über das Bild hinweg. «Ich mag keine Füsse, also dachte ich nur daran, wie eklig sie sind», erklärt er. Deshalb tauchte er noch tiefer in den Text ein und begriff, dass die schmutzigen Füsse von Jesus dessen einzige Körperteile waren, die sie sich als Sünderin zu berühren traute. Und dann sah er Jesus vor sich, der sie bei der Hand nahm und hochhob. «Wenn wir uns unwürdig und ungeliebt fühlen, greift Jesus nach unten und hebt uns hoch.»
Kaffee trinken
Was sich nicht ganz ernstgemeint anhört, steht für all die Dinge und Tätigkeiten, die Menschen mit ADHS dabei helfen können, ihr Leben (und damit auch ihr Gebetsleben) zu bewältigen. In der «Jüdischen Allgemeinen» erzählt Beni Frenkel, dass er dabei zufällig auf Espresso kam. Er konnte in einem Sabbat-Gottesdienst nicht länger mitbeten und lief durch die Synagoge. Dabei fand er in einem Kellerraum eine Kaffeemaschine, genehmigte sich zwei Espressi und konnte sich anschliessend wieder voll auf die Gebetszeit konzentrieren. So schloss er mit dem Synagogendiener einen Deal: «Zehn Euro pro Monat für die kostenlose Benutzung seiner Kaffeemaschine. Ausserdem erzählt er niemandem von der Sünde, dass ich am Ruhetag die Maschine benutze.»
Man sieht, ADHS ist kein typisch christliches Problem. Aber jedes Bewusstmachen, jedes Herausholen aus der Scham, versagt zu haben, und jede kreative Lösung helfen weiter. Auch beim Beten.
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