Wenn grosse Träume platzen
«Welchen Wert hat mein Glaube, ausser dass ich mich an ein paar Regeln halte?» 1990, während der Rekrutenschule, wird Michael Girgis von dieser Frage umgetrieben. In den folgenden Jahrzehnten sollte er Antworten finden.
«Dann werde ich halt Pfarrer!»
Während eines Amerikaaufenthalts hat Michael eine starke Gotteserfahrung. Alle Glaubenszweifel verfliegen. Gottes Reden ist unerwartet klar: «Ich will, dass du Theologie studierst!» Zurück in der Schweiz beginnt der junge Mann an der ETH Werkstoffingenieur zu studieren… «Ich kämpfte mit Gott und weigerte mich, ein Theologiestudium zu beginnen.» Nach einem halben Jahr kapituliert Michael, sagt sich: «Dann werde ich halt Pfarrer!» Der überraschende Tod seines Vaters bringt 1992 viel Schmerz mit sich. Zeitgleich setzt sich Michael gemeinsam mit seinem Bruder und Freunden für die Gründung einer Kirche ein. Unterdessen ist er verheiratet und Vater, gibt Vollgas für das grosse Projekt. «Inspiriert von amerikanischen Mega-Churches planten wir, unsere Stadt auf den Kopf zu stellen. Ich wollte bekannt werden, jemand sein», erzählt Michael. Doch das grosse Wachstum bleibt aus. frustriert wirft er Gott mangelnde Hilfe vor.
Als würde der Stecker gezogen…
Ende 2000 erkrankt eine Tochter schwer, was einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt und mehrere Monate intensive Pflege zur Folge hat. Das ist der Anfang vom Ende. Michael bricht zusammen, kommentiert heute nüchtern: «Auf einmal ging gar nichts mehr.» Er muss alle Termine absagen, hat kaum Kraft, sein Bett zu verlassen. Die Diagnose: Burnout! Neun Jahre nach der Gründung wird die Kirche geschlossen. Die grossen Träume sind geplatzt, Michael ist enttäuscht, ausgebrannt und depressiv. Und wieder sind da die Fragen: «Wer bin ich?» und «Wozu lebe ich?»
Identität gefunden
Michael ist am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Er, der sich bislang über Leistung und Erfolg definiert, kapituliert zum zweiten Mal und muss erkennen: «Letztlich ist alles ein Geschenk und nichts mein eigener Verdienst.» Gerade dort, wo er keine Erfolge aufweisen kann, erfährt er Gottes Liebe. «Ich begriff, dass ich bedingungslos von Gott geliebt bin – einfach so!» Bis anhin hatte er seinen Wert über Erfolg und Ansehen definiert. Das ist nun vorbei und Michael stellt fest: «Egal, welchen Beitrag ich aus eigener Kraft leiste, es ändert nichts daran, wie Gott über mich denkt.»
Erfolg ist zweitrangig
Michael wird angefragt, Teil einer kleinen Männergruppe zu werden. «Diese Gruppe trug mich durchs folgende Jahrzehnt und half mir, mein Leben neu zu ordnen. Mich selbst und meine Motive zu hinterfragen, war schockierend und heilsam zugleich», resümiert er. Irgendwann bewirbt sich Michael für die Stelle des Studienleiter-Assistenten bei IGW (Institut für gemeindeorientierte Weiterbildung) und wird prompt angenommen. «Vom ersten Tag an wusste ich: Das ist mein Traumjob!» Inzwischen ist Michael seit über 20 Jahren bei IGW und seit bald sieben Jahre Direktor. Heute bildet er sich nichts mehr ein auf seine Position, sagt abschliessend: «Gott nimmt mich an – samt meiner Fehler. Ich brauche mich weder ihm noch Menschen zu beweisen.»
Zur Person:
Was bringt Sie zum Lachen?
Meine Mitmenschen, witzige Alltagssituationen, intelligenter Humor, Satire.
Worüber denken Sie oft nach?
Den Sinn des Lebens, meine Berufung, Familie und über gute Beziehungen.
Was würde uns an Ihnen überraschen?
Meine Vorliebe für SEHR scharfes Essen und meine Fähigkeit, Menschen zu «lesen».
Was möchten Sie gern erleben?
Dass der Glaube und die Kirche relevant werden und Menschen aufblühen können.
Wann geraten Sie in einen Flow?
Bei der Arbeit und durch inspirierende Impulse oder Gespräche.