Die Löcher im eigenen Mantel sehen
«Ich war kein pflegeleichter Schüler. Heute würde ich in der Schule wohl zu den Ritalin-Bezügern gehören», sagt Martin von Känel und lächelt verschmitzt. In einem streng christlichen Haus aufgewachsen, hat er den Glauben kennengelernt, aber auch eine gesunde Distanz entwickelt gegenüber allzu grosser Frömmigkeit: «Ich ertrage keine Doppelbödigkeit. Jeder Mensch hat auch Schattenseiten, sie zu kennen und nicht zu leugnen, bringt uns weiter!» An der Bibel gefällt von Känel die Botschaft, dass Gott die Menschen bedingungslos liebt. Sein Versprechen in der Bibel, in Jesaja, Kapitel 42, Vers 3, den glimmenden Docht nicht auszulöschen und das geknickte Rohr nicht zu zerbrechen, motiviere und inspiriere ihn. «Einen Gott, der recycled, finde ich gerade in unserer Zeit sehr attraktiv.»
Wilde Jugend
In seiner Jugend war Martin von Känel ein wilder Kerl. «Ich ging ohne Prüfung Deltasegeln und Autofahren, mein damaliger Fahrstil würde heute in die Kategorie 'Raserdelikte' fallen», gesteht er. Auch Autodiebstähle und Vandalismus gehörten zum Programm: «Nur, weil ich nie erwischt wurde, kam ich am Jugendstrafgericht vorbei.» Als Martin von Känel später mit Gefängnisinsassen arbeitet, wird ihm bewusst, dass auch er auf der anderen Seite hätte landen können.
Gas geben und bremsen
Nach der Ausbildung zum Feinmechaniker repariert Martin im Aussendienst PCs. Über kirchliche Jugendarbeit findet er in die Gassenarbeit und hilft, eine Notschlafstelle aufzubauen. Später übernimmt er die Geschäftsleitung von «Halle 21» mit dem Skatepark «Rollorama» in Thun. 1990 heiratet Martin von Känel, studiert nebenbei soziale Arbeit. Das Paar bekommt vier Söhne und nimmt Pflegekinder auf. In seiner Freizeit entwickelt Martin ein Konzept
zur Schuldensanierung und gründet 2001 die erste Beratungsstelle für das Berner Oberland. Damit wird er ein gefragter Referent und Multiplikator. SRF engagiert ihn während zwei Jahren für die Sendung «Leben live» als Schuldenexperte.
Das Leben auf der Überholspur zollt seinen Tribut. Martin von Känel muss sich eigenen Schattenseiten stellen. Seiner Beziehung und Gesundheit zuliebe lernt er, ausgewogener zu leben: «Ich war lange Zeit so engagiert und beschäftigt, dass ich meiner Ehe und Familie nicht immer gerecht wurde», bekennt von Känel. «Die Erkenntnis, dass ich die Welt weder retten kann noch muss, hat mir sehr geholfen.»
Fördern und fordern
Mit 36 Jahren beginnt Martin von Känel, für die öffentliche Verwaltung zu arbeiten, leitet die Sozialabteilung Münsingen seit 2013. Er liebt seinen Beruf. Mit Herzblut kümmert er sich um verletzte und missachtete Menschen, ermutigt sie und zeigt ihnen neue Perspektiven auf. Er gelte als streng, sei kein Sozi, der allen über den Kopf streichle: «Wer sich nicht integrieren, die Sprache nicht lernen oder ohne Grund nicht arbeiten will, der beisst bei mir auf Granit. Unser Sozialstaat hat auch unbequeme Seiten, die müssen wir bei aller Fürsorge im Auge behalten.» Von Känel hat grossen Respekt vor Personen, die nicht aufgeben. Deshalb gibt es für ihn keine hoffnungslosen Fälle. «Wenn jemand nach 500 Bewerbungen eine Stelle findet … in solchen Momenten beginnt der glimmende Docht zu leuchten. Da stellen sich mir noch heute die Nackenhaare auf.»
Sinnvolles und Sinnfreies
Auch der Pionier hat in seinem Leben einige Narben davongetragen. Projekte, die er mit anderen aufbaute, scheiterten an zwischenmenschlichen Konflikten. «Es menschelt überall, auch in Kirchen», hält er fest. «Die Frage ist nur, ob wir uns mit Enttäuschungen versöhnen oder bitter zurückziehen. Verheilte Narben bringen Gelassenheit und Reife, um im Leben zu bestehen.» Dazu gehört für Martin von Känel auch sinnfreies Tun. Am liebsten frönt er diesem am Wochenende in seinem «Budeli». Seit einigen Jahren restauriert er mit Freunden alte Limousinen. Während dem Schleifen und Schrauben kommen die Männer ins Gespräch. Das Auto-Recycling erinnert Martin an den Umgang mit Menschen. «Es gilt, den Rost zu finden, zu entfernen und die brauchbaren Teile wieder instand zu stellen. Schon als Kind habe ich alles im Haushalt repariert. Ich bin dem Recyclen hoffnungslos verfallen, das ist eine Passion – ob Material oder Menschen.»
Hoffnung und Toleranz
Trotz Coronakrise und Krieg in Europa nimmt Martin von Känel viel Hoffnungsvolles in der Gesellschaft wahr: «In Krisenzeiten wurde eine Menge zivilgesellschaftliche Sozialarbeit geleistet. Private, Vereine, Kirchen engagieren sich für Flüchtlinge, bieten Wohnraum und Sprachkurse an.» Auch sonst sieht und freut sich von Känel über positive Entwicklungen: «Väter nehmen heute mehr Anteil an der Erziehung der Kinder, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat sich in den letzten Jahren verbessert.» Auch was die Akzeptanz von Minderheiten, Suchtkranken oder Anliegen des Umweltschutzes betreffe, reagiere die Gesellschaft heute differenzierter.
Bei allem Engagement, wichtig seien Demut und Bescheidenheit. Martin von Känel erklärt: «Die Löcher im eigenen Mantel zu sehen, führt zu mehr Toleranz. Das ist gerade für Menschen, die sich engagieren, sehr wichtig.» Von Känels Erkenntnis aus über 30 Jahren Sozialarbeit: «Menschen sind und bleiben widersprüchliche Wesen. Ich versuche, sie trotzdem zu mögen – es gibt ja keine anderen.»
Zur Person:
Was bringt Sie zum Lachen?
Situationskomik, die Namen mit Handlungen verknüpft. Zum Beispiel sehe ich das Komische daran, wenn ein Herr Wüthrich wütend ist.
Worüber denken Sie oft nach?
Darüber, wie die Herkunft Menschen prägt und sich auf ihr Leben auswirkt.
Was würde uns an Ihnen überraschen?
Meine Sehnsucht nach «kontemplativem Sein», sprich Faulenzen!
Was möchten Sie gern erleben?
Einen Demokratieschub in Russland, Drohnen, die Verkehrsprobleme lösen, gesellschaftsrelevante Kirchen und vieles mehr.
Wann geraten Sie in einen Flow?
Bei handwerklichen Tätigkeiten mit lautem Rock'n'Roll.