«Wir haben uns sofort in Lina verliebt!»
«Als wir 2011 heirateten, wünschten wir uns Kinder», erzählt Caja Graber. «Wir sprachen auch über die Konsequenzen, falls eines mit Behinderung geboren werden sollte, und wir waren uns einig, es anzunehmen.» Mit 40 wird Caja zum ersten Mal Mutter und ist zwei Jahre nach Ellas Geburt wieder schwanger. Bereits im ersten Trimester stellt der Gynäkologe Auffälligkeiten fest. «Er teilte mir telefonisch mit, dass mein Kind voraussichtlich von Trisomie 21 betroffen und ich für weitere, dringende Abklärungen bereits angemeldet sei.» Caja und Dominique beschliessen, den Untersuchungen zuzustimmen, nicht aber einer Fruchtwasserpunktion. Diese könnte eine Fehlgeburt auslösen, was das Paar nicht riskieren will.
Ein feiner Name
Derweil ist bei Ella die Freude auf das Geschwisterchen, das in Mamis Bauch heranwächst, gross. Liebevoll streichelt sie es durch die Bauchdecke. Es ist der passende Moment, einen Namen für das Baby zu bestimmen. Sollte es ein weiteres Mädchen sein, wollen sie ihre Tochter Lina nennen. Der Name steht für «die Kleine», «kleiner Engel», «die Sanfte».
Abtreiben?
Auf einmal überfallen Dominique unsanfte, dunkle Gedanken: «Wenn meiner Frau etwas zustösst, bin ich alleinerziehender Vater einer Zweijährigen und eines Neugeborenen mit Trisomie 21…» Für einen Moment steht die vermeintliche «Lösung» im Raum. Das Paar spricht sich offen darüber aus und entscheidet erneut: «Nein, eine Abtreibung kommt nicht infrage, wir haben uns entschieden, dieses
Kind anzunehmen, und bleiben dabei.» Dominique ergänzt: «Ich wusste, meine Frau würde einen solchen Eingriff nicht verkraften.» Auch die beiden Grosseltern-Paare versichern: «Wir stehen hinter euch, egal, wie ihr euch entscheidet!» Wo Familie Graber in ihrem Umfeld auch darüber spricht, dass ihre Tochter ein drittes Chromosom besitzt – überall erlebt sie Verständnis für ihren Entscheid. Anders die Reaktion von Cajas Frauenarzt. Er versucht mehrmals, die Mutter zur Abtreibung zu bewegen. Doch das Paar besteht darauf, die Schwangerschaft fortzuführen. Daraufhin vermittelt der Arzt Kontakte zu Fachpersonen.
Liebe auf den ersten Blick
Wider Erwarten wird Lina spontan und termingerecht geboren, muss jedoch aufgrund unzureichender Sauerstoffsättigung auf die Neonatologie verlegt werden. Caja und Dominique erinnern sich: «Als wir Lina sahen, haben wir uns sofort in unsere Tochter verliebt!» Das Mädchen entwickelt sich gut, benötigt für alles einfach etwas mehr Zeit. Lina geht begeistert in die Spielgruppe und später zweimal pro Woche in die Kita. Ihre Eltern führen einen Familienbetrieb für industriellen Augenschutz, dessen Eigentümer Dominique ist. Caja leitet eine Filiale in Teilzeit. Beim Eintritt in den Kindergarten kann Lina nur wenig sprechen. Doch mit Mimik, Gestik und Lauten gelingt die Verständigung. Inzwischen ist sie acht Jahre alt und besucht die dritte Klasse einer Regelschule, wo sie und drei weitere Kinder mit Beeinträchtigung von Heilpädagoginnen begleitet werden. Caja sagt dankbar: «Wir hatten grosses Glück, dass in jenem Jahr in Sissach eine Integrationsklasse eröffnet wurde.»
Integriert und gut versorgt
Lina geht sehr gern in die Schule und trifft so ihre Freunde unkompliziert zum Spielen im Quartier. «Natürlich habe ich während der Schwangerschaft viele Gedanken gewälzt und auch Tränen vergossen», gibt Caja rückblickend zu. «Ich stellte mir vor, dass Ella später Freunde nach Hause bringen und Partys feiern würde, und sah Lina ausgeschlossen und traurig auf dem Boden sitzen…» Heute sind solche Gedanken überflüssig, die Mädchen haben eine innige Beziehung zueinander. Einmal pro Woche wird Lina in die Hippotherapie gebracht. Bereits nach der ersten Lektion auf dem Pferd begann sie erste Worte zu sprechen. Das Training stärkt auch ihre Muskulatur. Wöchentlich besucht Lina die Logopädin und erhält zweiwöchentlich Physiotherapie. Ansonsten sei Lina ein kleines Mädchen wie alle anderen in ihrem Alter, fröhlich, lustig, manchmal ein Schlitzohr, manchmal etwas stur, verrät Caja und fügt an: «Linas Emotionen sind offensichtlich – sie liebt es, zu spielen und zu lachen, begrüsst begeistert ihren Papi, wenn er heimkommt.»
Aktiv bei hope21
2019 wurde der Verein hope21 gegründet. Er vermittelt Familien, die mit einem Kind mit Trisomie 21 leben, mit solchen, die eines erwarten. So spüren sie hautnah die Bereicherung, die das Zusammenleben bieten kann. «Genau das hätte ich mir während meiner Schwangerschaft gewünscht», bekrä igt Caja, die sich nun im Vorstand engagiert. Sie betont: «Jedes Leben ist wertvoll. Unser Verein vertritt Werte wie Nächstenliebe, Respekt vor dem Leben in jeder Form und vorbehaltloses Aufeinanderzugehen.» Sobald sie Einblick in den Alltag einer Familie mit einem Kind mit Zusatzchromosom bekämen, würden sich die Befürchtungen vieler Paare relativieren, erlebt Caja immer wieder. Sie setzt sich auch dafür ein, dass die Diagnose nicht per Telefon übermittelt und im nächsten Satz das Thema Abtreibung angeschnitten wird. «Wir nötigen keine Frau, ihr Kind auszutragen. Aber wir geben gern Auskunft, wie reich das Leben mit ihm aussehen kann», erklärt Caja. In der Schweiz bestünden zahlreiche Hilfsangebote. Dazu zählen für Lina nun auch Assistenten, die sie zur Schule oder Therapie begleiten oder einfach mit ihr spielen. In einer heilpädagogischen Schule wäre all dies inkludiert. Abschliessend gerät Caja ins Sinnieren: «Niemand kennt die Zukunft seines Kindes. Wir gehen zuversichtlich vorwärts und wollen uns nicht sorgen. Ich spüre, da ist eine Kraft, die uns alle trägt.»
Über hope21:
Der Verein hope21 ist überparteilich und konfessionell neutral. Er vernetzt Eltern, welche die Diagnose Trisomie 21 für ihr Kind erhalten haben, mit Familien, die bereits mit einem Kind mit Extrachromosom leben. Sie kommen aus allen Regionen der Schweiz, bieten Einblick in ihren Alltag und stehen für Fragen, Sorgen und Ängsten unterstützend zur Seite. Über die Webseite können interessierte Familien Kontakt mit einer HopeFamiliy aufnehmen. hope21 koordiniert die Vernetzung und begleitet die Familien im Hintergrund.
Des Weiteren steht hope21 medizinischen Fachpersonen rund um das Thema Diagnosenübermittlung zur Seite. Als sehr hilfreich erwiesen hat sich die Broschüre «Diagnoseübermittlung – die richtigen Worte finden». Sie kann über die Website heruntergeladen oder auch kostenlos bestellt werden.
HopeFamily finden oder HopeFamily werden: hope21.ch